Montag, 1. September 2014

I reject your reality and substitute my own, Part II

Ich habe mich in letzter Zeit oft darüber geärgert, dass im Bereich Rollenspielentwicklung nichts nennenswertes mehr passiert. Zu beschäftigt sind die Verlage, ihre bunten Boxen zu "promoten", zu beschäftigt die Konsumenten, sie auszupacken und zu bestaunen.
Was mich in diesem speziellen Fall frustrierte, war die Vermutung, dass es keinen "Regelansatz zur Verhandlung und Konsensfindung bei der Bewertung von Spielsituationen" gibt. Ich schrieb, dass gescheiterte Verhandlungen der Grund für eine gescheiterte Spielrunde sind. Was mir jedoch fehlte, war ein Ansatzpunkt, nämlich der eigentliche Gegenstand der Verhandlung.

Und fast im Verborgenen hat bei den deutschen RPG Bloggern nun m.E. eine wichtige Diskussion über Rollenspielentwicklung gezündet. Eine Diskussion, die mindestens implizit seit dem Scheitern (?) von D&D 4 und dem Entwicklungsstart von D&D Next als Taktgeber der globalen Rollenspielcommunity mitschwingt, sei man nun ein Spieler derselben oder nicht. Nämlich die Diskussion, wie Spielinhalte ihren Weg in das Rollenspiel finden. Und mit der Diskussion werden Fragen aufgeworfen, die darüber hinausgehen, ob eine +4 Modifikation nun gestalterisch sinnvoller ist, als ein Nachwürfeln, oder ob das Würfeln von 3W20 gegenüber 1W20 nicht vielleicht doch eher "komplizierter" anstatt "einfacher" ist.

Andreas von RPGnosis hat hier mit einer wundervollen, perspektivischen Verschiebung einen großen Teil alter Zöpfe abgeschnitten und Inspiration für neue Ansätze geschaffen. Im Wesentlichen ist die Grundlage, dass der sogenannte "Gemeinsame Vorstellungsraum" (http://ptgptb.org/0026/theory101-01.html) nicht existiert und für das Rollenspieldesign auch gar nicht benötigt wird. Stattdessen ist der Rollenspielprozess abhängig von den individuellen Gedanken eines jeden Mitspielers. So weit, so einleuchtend. So gesehen gibt es am Spieltisch nicht "das Rollenspiel", sondern jeder spielt dementsprechend sein eigenes Rollenspiel und versucht dieses seinen Mitspielern zu vermitteln und deren Rollenspielversionen aufzunehmen (soweit ihm das durch unwillkürliche Annahmen in seinen Vorstellungen überhaupt möglich ist). Daraus können diverse Unstimmigkeiten und Missverständnisse erwachsen, die das gemeinsame Spielen stören oder unmöglich machen können. Craulabesh merkt hier außerdem an, dass diese Störungen der kreative Motor des Rollenspieles ist (der Beitrag ist überhaupt ein guter Einstiegspunkt für die Leser, um wieder in das Thema zu kommen).

Warum ist das nun wichtig? 
Das eine Spielrunde gemeinsame Absprachen treffen muss oder die Inhalte so überschaubar wie möglich halten soll (K.I.S.S. = keep it straight and simple) oder im Zweifelsfall "der Meister immer Recht" hat, ist keine neue Erkenntnis und ergibt sich quasi als Notwendigkeit daraus, dass am Spieltisch nichts handfestes geschieht, wie z.B. bei einem Brettspiel oder Computerspiel. 
Es ist wichtig, weil dieses "Absprechen" im Rollenspieldesign häufig nicht verankert wird, sondern vielmehr diese Absprachen als Maßnahme gegen das Regelsystem genutzt werden müssen, welches die Spielrunde meist einschränkt oder ausbremst.

Bei einem klassischen Regeldesign stehen die Regeln als Steuerung des gemeinsamen Konsens im Vordergrund. Mit anderen Worten: Die Spielregeln geben vor, wie sich die Mitspieler bestimmte Situationen vorzustellen haben. Es gibt komplexere Systeme und abstraktere Systeme, aber meist haben sie den Anspruch, alles oder "alles Wichtige" vorweg zu verregeln (also bevor es überhaupt im Spiel auftritt). Diese Systeme lassen sich abermals unterteilen in solche, welche die Funktionen der Spielwelt und solche am Spieltisch zwischen den Mitspielern regeln. Und natürlich alles dazwischen.

Entgegen der irrigen Annahme, ist Rollenspiel allerdings kein "Spiel" (im Sinne von "Game"), sondern Verhandlungssache und das bemerkt man ziemlich schnell in der Praxis. Unter dieser Annahme stößt man erfahrungsgemäß nämlich sehr schnell an die Grenzen des "Spiels", da zum Einen die Vorstellungen eines Spielers (gar nicht zu reden von gleichzeitigen, unterschiedlichen Vorstellungen mehrerer Spieler!) um einiges vielfältiger und detaillierter sein können, als jeder Regelkatalog vorgibt. Sich an vorgegebene Regeln zu halten, ist also immer eine Einschränkung der Optionen. Zum Anderen berücksichtigen diese Spielregeln selten (insbesondere solche des Spieltisches selbst, Erzählrechte und Player Empowerment, ich schaue auf euch), dass kein Spieler eine Regelung akzeptiert, nur weil sie da ist. Auch hier mit anderen Worten: Man muss nicht alles hinnehmen, was in einer Spielrunde gesagt wird, nur weil in einem Moment ein Spieler ein "Erzählrecht", "immer Recht" oder ähnliches hat. Man muss seine Mitspieler überzeugen.

Damit jemand diesen "Regel überschreibt Vorstellungswelt"-Ansatz überhaupt für Voll nimmt, hat man sich viele argumentative Strohmänner erarbeitet, wie den "guten und schlechten Rollenspieler", die "goldene Regel" (ignoriere Regeln, die dir nicht gefallen) oder "Spaß ist wichtiger als Regeln" (ich weiß immer noch nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat). Diese Tricks implizieren bereits den eigentlichen Vorgang, den Andreas nun übersichtlich dargestellt hat:

Nämlich das Verhandeln und das verständlich Machen des Spielinhalts. Das die Vorstellungen der Spieler der Kern des ganzen Rollenspieles ist und nicht andersherum ihre Vorstellungen anderen Spielaspekten (wie Regeln) untergeordnet sind. Es geht im Regeldesign nicht darum, Probleme bei unterschiedlichen Spielervorstellungen zu vermeiden, sondern sie möglichst effektiv zu lösen. Das ist das, was wir alle im RPG tun, was uns die meisten Regelsysteme aber nicht tun lassen.

Spielregeln und Hilfsmittel (Spielfiguren, Skizzen, Hintergrundbücher) können hierbei eine Sprache sein, aber kein eigenständiger Spielmechanismus. Eine Spielregel wie "Stromschnellen erschweren das Schwimmen um X" benötigt vor der Anwendung eine Beurteilung darüber, wann man überhaupt von Stromschnellen spricht. Die Vorstellung steht also an erster Stelle und dann kommt erst die Regel. Regeln und Hilfsmittel können die Spielrundenkommunikation nicht starr steuern, sie sind ein Teil oder Werkzeug derselben. Zum Beispiel garantiert kein Hintergrundbuch einer Spielwelt, dass die Spieler alles darin auch gleichartig in ihre Vorstellungen einbauen. Aber sie können sich darauf als Vokabular berufen ("aber auf Seite X. steht doch...").
Das ist ein eklatanter Perspektivwechsel bei der Gestaltung von Spielregeln und -inhalten und was sie zu leisten haben. Wichtig ist nun nicht mehr, dass ein Rollenspiel z.B. mit seinen 235 Kampfmanövern thematisch alles abdeckt, was existiert, sondern aus welchen Bausteinen (auch begrifflichen!) diese bestehen, damit sich die Spieler möglichst eindeutig verständlich machen können. Auch ist nicht wichtig, wie die einzelnen Regeln miteinander in Zusammenhang stehen, sondern dass sie leicht und übersichtlich in Zusammenhang gebracht werden können.

Ist mit einem Regelsystem und den Hilfsmitteln einmal ein Vokabular geschaffen, so können diese zur Verhandlung eingesetzt werden, also dem eigentlichen Rollenspielprozess. Eine Verhandlung setzt voraus, dass alle Verhandlungsseiten gegensätzliche Interessen haben und diese durchsetzen wollen. Als Ergebnis kann ein Regelmechanismus entstehen oder auch eine Abstimmung und vieles andere. Old-School Spiele gehen so schon seit Langem (halbherzig) vor.
Doch zunächst ist zu klären, was die Interessen in der Verhandlung eines jeden einzelnen sind. Auf Seiten der Spieler sehe ich hier zum Beispiel ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- situative Spannung
- gestalterische Gewalt
- Eskapismus / Entspannung
- seine Mitspieler zu unterhalten

Und auf der Spielleiterseite (SL)? 
Beim Hofrat las ich vor Urzeiten einmal, dass ein SL keine Interessen haben darf. Er muss absolut unparteiisch sein (zwischen Spielwelt und Spielern). Eine Spielwelt hat aber keine Interessen. Ohne gegensätzliche Interessen aber gibt es keinen Verhandlungsgrund und demnach kann auch die Verhandlung der Spielvorstellungen nicht in Gang gesetzt werden. Offensichtlich passiert dies aber. Welches Interesse also hat der Spielleiter? Das offensichtlichste Interesse wäre eine Art Wettbewerbsposition, in der der SL tatsächlich der Gegner der Spieler ist. Das schließt sich allerdings dadurch aus, dass die gestalterische Gewalt zu einem großen Teil in seinen Händen liegt und er sämtliche Inhalte beurteilt und bewertet. Ist Unparteilichkeit ein Interesse, aber welche Parteilichkeit, wenn es dann doch nur noch die Partei der Spieler gibt?

Ich denke, dass die Diskussion über das Thema erst am Anfang steht und schlage daher vor, zunächst einmal zu klären, warum der Spielinhalt überhaupt untereinander ausgehandelt werden muss und welche Rolle dabei die Position der Mitspieler einnimmt (Spieler/Spielleiter).

Befeuert die Diskussion, so lange sie heiß ist. Am Besten an einem gut überschaubarem Ort, wie dem RSP-Blogs-Forum.
http://forum.rsp-blogs.de/diskussion-und-kommentare/httphochistgut-blogspot-de201409i-reject-your-reality-and-substitute-my-ht/msg13806/#msg13806