Donnerstag, 18. Juni 2015

RSP-Blogs Karneval [Juni 2015] Taktik im Rollenspiel?

Der diesmonatige RSP-Karneval beschäftigt sich mit dem Thema Taktik. Und zwar nicht nur die Taktik im militärischen, sondern im allgemeinen Sinne; was wir "Gamer" eben darunter verstehen. Taktik im Spiel bedeutet im Grunde nichts anderes, als das ein Spieler aus einem System nicht überschaubarer, aber bekannter Zusammenhänge die für ihn "beste" Entscheidung bzw. Entscheidungskette treffen musss.
Im Grunde sprechen wir hier von einem Entscheidungsbaum, der durch das wechselseitige Wählen von Aktionen und Reaktionen der Gegenpartei (meistens der Spielleiter) zu einem ungewissen Ausgang führen soll. Diese Ungewisseheit erzeugt dann Spannung a.k.a. Spaß.

Sorben von gelbe-Zeichen, der diesen Karneval dankbarerweise ausrichtet, hebt den Begriff Strategie hier zwar mit unter, ohne konkret zu differenzieren, aber die Grenzen zwischen Strategie und Taktik sind im allgemeinen Sprachgebrauch ohnehin fließend.
Das Thema trifft sich insofern ausgezeichnet, da ich beim Gestalten eines hauseigenen Minisystems seit Kurzem genau vor diesen grundsätzlichen Fragen stand: Wodurch erreiche ich Taktik im Rollenspiel und was steht ihr im Wege?
Und an dieser Stelle muss ich dem Thema leider schon wieder reingrätschen.
Mir fiel auf, dass sehr viele Rollenspielsysteme, die wir in unseren Spielrunden über die Jahre benutzt haben, dazu tendierten, die Kämpfe einfach runterwürfeln zu lassen. Das heißt, jeder Mitspieler würfelt für seinen Charakter die beste Option (Angriff, Verteidigung etc.pp.), bis der Kampf ein Ende nimmt. Das klingt genausowenig spannend, wie es war.
Der Grund dafür war meines Erachtens das Fehlen klar verregelter Entscheidungen. Außerdem: Würfel (wobei ich hierunter sämtliche Zufallsgeneratoren, z.b. auch Karten meine), aber dazu komme ich noch. 

Wie handhaben das andere Spiele?
Sprechen wir über Schach und Go, die vermeintlichen Könige der Taktik (bzw. Strategie). In beiden Spielen haben die Spieler nur eine Aktion pro Runde - das Setzen des Spielsteines - die immer gelingt, dennoch ist der Fortgang und Ausgang der Partie unvorhersehbar. Wie kann das sein? Es wird nicht einmal gewürfelt, es gibt also nur einen perfekten Ablauf zum Sieg oder mehrere gleichwertige. Wir lernen hier also schon einmal den wichtigen Unterschied zwischen "Unvorhersehbarkeit" und "Zufall".
Der Grund für die Unvorhersehbarkeit ist die Vielzahl von möglichen, aneinander gekoppelten Entscheidungen, in der Stochastik auch "Möglichkeitsraum" genannt. Der Grund für die Unvorhersehbarkeit ist einfach der Tatsache geschuldet, dass keiner der beiden Spieler sicher sein kann, dass er die Situation korrekt überblickt. Die Beschränktheit des Gehirns als Chaosfaktor sozusagen. Genaugenommen kann man sagen, dass die Taktik aus den Fehlern der Spieler heraus entsteht. Gäbe es keinen Fehler, gäbe es auch keine Taktik.
Ein großer Möglichkeitsraum ist alles was man braucht, um ein taktisch herausforderndes, unvorhersehbares Spiel zu bekommen. Es ist bezeichnend, dass eines der ersten Wargames der Welt für den Hausgebrauch - Little Wars von H.G. Wells - ebenfalls keine Würfel, also keinen Zufall, benötigt hat.

Warum benutzen Rollenspiele überhaupt Würfel, wenn man sie für taktische Entscheidungen doch gar nicht benötigt?
Nun, Vertreter des spielerischen Determinismus argumentieren, ein Würfelwurf nähme dem Spieler die Verantwortung weg und damit die Motivation, sich überhaupt zu beteiligen. So könnte der Spieler sich aus seiner Verantwortung ziehen, wenn er korrekterweise z.B. eine Taktik mit 95 % Erfolgschance wählte und sie dann aber trotzdem fehlschläge. Als Folge wäre der Würfel und eben nicht der Spieler schuld und infolgedessen gäbe es auch keine sinnvolle Taktik.
In emotionaler Weise kann man das nachvollziehen, wenn man an die eigenen Frustmomente mit verpatzten Würfelwürfen zurückdenkt. Aber auf der anderen Seite: wird die ursprüngliche Entscheidung falsch, nur weil ein seltenes Ereignis eintritt? Der psychologische Effekt (die Dämpfung der Motivation) ist hier sicher entscheidener, denn ein Würfelwurf macht eine Taktik nicht weniger berechenbar, nur zufälliger (das nennt man auch Risikomanagement)! Der Würfel ist sicher nicht der Grund fehlender Taktik im Rollenspiel. Zufall ist berechenbar und eben nicht dasselbe wie Unvorhersehbarkeit. Man kann ein taktisches Spiel mit und ohne Würfel bekommen.

Würfel werden benutzt, um im Rollenspiel die Entscheidung für Handlungen auf Basis unvorhersehbarer Umwelteinflüsse zu treffen. Denn Rollenspiel findet nicht auf einem Spielbrett statt, sondern in der Phantasie.
Würfelentscheidungen nehmen dem Spieler gefühlt Verantwortung aus der Hand, aber auf der anderen Seite sind sie bis dato die einzige Möglichkeit, Umwelteinflüsse zu simulieren, die wir selber nicht beeinflussen können. Schach und Go zeichnen sich durch die Abwesenheit solcher Einflüsse deshalb auch nicht gerade durch Realitätsnähe aus, die tatsächliche Vielfalt an Ereignissen ist bei diesen Spielen massiv eingeschränkt.
Auch wenn wir heute noch gar nicht wissen, ob wir ein reales Ereignis berechnen können, zeigt sich, dass es bei taktischen Fehlentscheidungen so gut wie immer Faktoren gibt, die nicht berücksichtigt, also übersehen wurden, das also vermeidbare Fehler gemacht werden, über deren Konsequenz eine "andere Instanz", die Realität, entscheidet. Ob diese Fehler durch Zufall oder durch unvorhersehbare Komplexität enstanden sind, ist zwar offen, im Spiel haben wir jedoch ohnehin nur den Würfel (= Zufall) als beste Annäherung daran. Mit Würfeln lässt sich ein großer Möglichkeitsraum also wunderbar simulieren.

Im Brettspielbereich, insbesondere im thematischen Brettspielebereich, der in Sachen Entwicklung den Rollenspielen mittlerweile um Lichtjahre voraus ist, arbeitet man mit dieser Würfeleinschränkung konstruktiv. Dort unterscheided man gerne in outgoing und ingoing randomness. Gefühlt 99% der Rollenspiele nutzen outgoing randomness. Das bedeutet, ein Spieler trifft eine Entscheidung und kontrolliert danach, ob die Entscheidung zum Erfolg führt oder nicht. Beliebt bei Brettspielen in letzter Zeit ist jedoch die ingoing randomness. Dabei wird erst über einen Würfel entschieden, welche Ressourcen dem Spieler zur Verfügung stehen, mit denen er anschließend seine (deterministischen) Entscheidungen treffen kann. Das Gefühl, dass der Spieler dem Würfel ausgeliefert ist, wird durch ingoing randomness abgemildert (tatsächlich ändert sich aber gar nichts).

Eine nicht zu vernachlässigende Menge an würfellosen Rollenspielen in Folge versuchten ungeachtet dieser Würfelnotwendigkeit dennoch unter der Prämisse dieser eigenverantwortlichen, deterministischen Spielentscheidung ein spannendes, sprich unvorhersehbares und damit taktisches Spiel zu erzeugen. Soweit ich weiß ist jedoch keines von ihnen durch seinen taktischen Anspruch bekannt. Ebenfalls beliebt bei würfellosen Spielen ist das Bluffen, klassisch wäre hier Schere-Stein-Papier-(Echse-Spock), dort gibt es keinen Zufall, lediglich Unvorhersehbarkeit; allerdings auch keine Taktik, wie uns das Nash-Gleichgewicht lehrt. Einer der seltenen rollenspielerischen Vertreter hierfür wäre The Riddle of Steel, oder, um eines der aktuellen Dorfsäue zu nennen, zum Beispiel Tochbearer RPG.
Etwas Anderes als der böse Würfel steht der ganzen Taktik beim Rollenspiel also im Wege.
Hier die Auflösung: Rollenspiel ist kein Wettbewerb! Rollenspiel ist Improvisation und gelebter Kompromiss.

Zum Ersten gibt es mindestens einen Mitspieler, den Spielleiter, der über unendliche Mittel verfügt und dessen Wissen über die Vorgänge das der Spieler bei Weitem übersteigt. Aus dieser Situation heraus taktische Situationen zu erwarten wäre so, als würde man Stratego spielen, bei der ein Spieler mit umgedrehten Spielfiguren spielen muss und der andere Spieler gar nicht gewinnen will. Umsetzen ließe sich dies allenfalls mit einem neutralen, dritten Spieler (wie es damals bei Kriegsspielen - Wargames – auch gemacht wurde), dem steht aber Folgendes im Weg.
Zum Zweiten, Willkür. Ich meine hiermit völlig wertneutral die Entscheidungen der Spielrunde, wie man mit im Spiel neu auftretenden Situationen umgeht. Da Rollenspiel nicht an ein Spielbrett gebunden ist, sondern im Kopf stattfindet, kann buchstäblich alles passieren, worauf sich die Spieler einigen. Aber für eine Einigung müssen die Entscheider (die Spielrunde oder der Spielleiter) in Abwesenheit der "Realität" selbst die Fähigkeit besitzen, sämtliche möglichen Einflüsse zu überblicken oder einzugrenzen, was wiederum - wie wir zuvor erfahren haben - die Taktik eliminieren würde. Kein noch so komplexes und unvorhersehbares Rollenspiel und keine noch so gute Spielrundenabsprache kann die Möglichkeiten abdecken, die ein Spieler mit seinem Spielcharakter in einer Spielwelt hat. Ironischerweise zeichnet sich gerade Rollenspiel also durch einen geringen Möglichkeitsraum klarer Entscheidungen aus. Vieles ist unklar, viele Konsequenzen sind eben nicht nur "unvorhersehbar" sondern rein hypothetisch, unberechenbar und damit taktisch nicht zu bewerten.
Zum Dritten, Taktik entsteht fast immer auf der sogenannten Metaebene, das ist die Ebene, auf der die Spieler als sie selbst handeln und nicht als ihr Spielcharakter. Es ist schwerlich möglich, als fiktiver Charakter taktisch zu handeln und gleichzeitig alles auszublenden, was man als Spieler darüberhinaus weiß. Zum Teil kann das zusammenfallen (z.B. könnte ein Spieler einen Kommandaten spielen, der eine Schlacht kontrolliert), aber das ist nicht der Regelfall. Da Rollenspiel aber neben den vielen spielerischen auch von Elementen lebt, die Atmosphäre für bestimmte Milieus erzeugen sollen, ist das "Metaspiel", zu dem auch die Taktik gehört, fast immer der natürliche Feind der Spielatmosphäre und eventuell gar nicht wünschenswert.

Quintessenz: Rollenspiel ist kein geeigneter Ort, um Taktik zu verwirklichen. Man kann Taktik Spielen im Sinne eines Theaters, aber nicht wirklich erleben, wenn man es nicht zu einem Brettspiel verkommen lassen will und damit die Freiheit aufgibt, die Rollenspiel eigentlich auszeichnet.