"Wir könnten was Modernes
spielen, aber wir mögen es heute lieber rückständig!". Dezent
subversive Andeutungen ähnlich diesen lese/höre ich regelmäßig,
seit ich ernsthaft in die Welt der Old School Renaissance* (OSR)
eingestiegen bin, und das enttäuscht mich etwas. Aus meiner Sicht wirkt
der Vorwurf auch ein wenig sonderbar, konnte ich mein Verständnis
von Rollenspiel ja seit Beginn konsequent WEITERentwickeln.
Also habe ich mir angewöhnt, auf sowas
gar nicht anzuspringen. Was ich noch nicht gelernt habe ist: wie
vermittelt man die Möglichkeiten, die ein OSR Spielsystem dem Hobby
bietet um somit oberflächliche Vorbehalte in Neugier oder
Begeisterung verwandelt?
[*: mit Old School Renaissance sind zum
Einen all die Spielsysteme gemeint, die auf den ersten Versionen von
Dungeons & Dragons (D&D) aufbauen. Zum Anderen meint es aber
eben auch den Spielstil und die Herangehensweise ans Rollenspiel. Ich
will darüber nicht zu viele Worte verlieren, da das Internet voll
von OSR-"Manifesten" ist. Und ich kann es auch nicht, ganze
langjährig geführte blogs (meist im englischen Sprachraum)
beschäftigen sich mit nichts Anderem, als der Vermittlung des
Spielprinzips. Der Verlag System-Matters hatte
zuletzt eine (von vielen!) bedeutende Auslegung des OSR - den Old
School Primer von Matt Finch - übersetzt und hat diesen zum
Gratis-Rollenspiel-Tag (GRT) zur Verfügung gestellt (https://www.system-matters.de/osr-fibel-herunterladen/)]
Ursprünglich ein genialer Streich
mittels der OGL-Lizenz das alte D&D1 Spielmaterial wieder
zugänglich zu machen, ist die daraus entstandene OSR heute viel
mehr. Es ist richtig, diese Spielsysteme verlangen keine
multiplen Würfelwürfe für eine einzige Probe, es gibt keine langen
Listen mit vorgefertigten Spieloptionen und Talenten und Spielhandlungen mit
Ressourcenpunkten "kaufen" geht auch nicht, geschweige denn irgendwas
anderes, was heute als modern gilt. Damit scheinen viele "moderne"
Rollenspieler ein Problem zu haben und das wäre mir vor einigen
Jahren sicher auch so gegangen.
Dieses Problem, auch das Gespenst der
Überalterung, war in letzter Zeit hier und dort in der
OSR-blogosphäre ein Thema. Manche Spielleiter und Spieler scheinen noch
Probleme zu haben, ihrem Umfeld eine Spielrunde auf Basis
originärer D&D Regeln schmackhaft zu machen und das immer aus
der Defensive heraus. Diese Haltung ist eigentlich kurios,
und ich rege an, dass man dies mit dem "rückständig sein"
auch ganz anders sehen kann.
Meine steile Hypothese ist:
Es ist nicht rückständig, so zu
spielen, der Ansatz ist zu fortschrittlich für aktuelle
Trends!
Ja. Natürlich. Die OSR ist ja
schließlich eine verhältnismäßig neue Strömung im RPG Hobby, im
deutschen sowieso.
D&D1, auf denen die meisten OSR
Spiele mehr oder weniger basieren, hat zweifellos viele "Altlasten"
und der ein oder andere Grognard ist nur bedingt eine Quelle
progressiver Weiterentwicklung, aber wie die Mode kommen nunmal alle
Dinge zurück, vermischen sich, werden weiterentwickelt und zu etwas
Neuem. Die OSR ist nicht D&D1, schon längst nicht mehr gleichförmig und der Vorwurf der Rückständigkeit wird eigentlich selten dem neuen Phänomen sondern in der Regel dem Ablehnenden entgegengehalten.
Ich habe in all' den Jahren wenige
Rollenspiele kennengelernt, in die so viel Designarbeit, Reflexion,
Diskussion, Justierung und Verfeinerung gesteckt wurde und die
dermaßen viel Spielmaterial und Spielhilfen produziert haben, wie
jene Systemfamilie. Wer das Schwarze Auge für ein gut ausgebautes,
umfangreich unterstütztes und gepflegtes Produkt hält, der
unterschätzt meiner Meinung nach massiv die Leistung, welche die (meist nicht deutsche)
OSR-Community stemmt. Nicht zuletzt aufgrund der Fähigkeit des
leichten Regelkerns, unzählige Variationen zu produzieren, die
untereinander fast unverändert kompatibel sind und welcher als
gemeinsame Sprache funktioniert, kann man sich daran beteiligen, ohne
sich durch eigene Designs ins Aus zu schießen (mit sogenannten
"Heartbreakern").
Ohne die OSR hätte es das aktuelle
D&D5 in dieser Form nicht gegeben. Einige (nicht alle) sind
aktuelle und durchdachte Spielsysteme. Und das sage ich als jemand,
der gewohnheitsmäßig Fehler sucht.
Warum ist es meiner Meinung nach
modern, und mit modern meine ich nicht "besser" sondern
verdientermaßen in unsere Zeit gehörig? Das sind meist
designtechnische Herangehensweisen mit sehr praktischen Gesichtspunkten, die sich im Endprodukt aber
massiv auf den Spielverlauf auswirken:
- Sich Gedanken machen um die Organisation und den Ablauf am Spieltisch außerhalb der Spielweltereignisse. Wie handhabe ich als SL eigentlich eine Spielwelt mit unzähligen Einwohnern und Geschichten ohne den Überblick zu verlieren? Welche Auswirkungen hat das auf die Regeln?
- Die Berücksichtigung von alltäglichen Bedürfnissen. Viele spielen nur noch selten, haben dann wenig Zeit, wollen aber trotzdem Vielfalt an einem Abend. Kein Problem hier.
- Minimalistisches Design nach Ockhams Rasiermesser. Sind die vorhandenen Regeln ausreichend, benötige ich wirklich eine neue?
- Die Bewusstwerdung der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Rollenspiels. Anstatt "Alles geht (angeblich) gleichzeitig" die Frage "was kann ich am Tisch überhaupt umsetzen?"
- Die Priorisierung der Spielererfahrung über die Spielregeln anstatt umkehrt. Anstatt zu fragen "darf ich das und ist das realistisch?", die Frage "welche Regel setzt am besten meine Vorstellungen um?".
- Die Spielrunde als organisches, langfristig angelegtes Gebilde aus verändernden Perspektiven anstatt eines starren, mechanistischen Korsetts. "Spielt es eine Rolle, wie wir die Spielhandlung letzte Woche ausgewürfelt haben?".
- Das Interpretieren und Auslegen vorhandener Regeln, bevor eine Änderung vorgenommen wird. Habe ich den Zweck dieser Regel verstanden, bevor ich in die Tasten haue? (das führt auch zu dem von Vielen beobachteten, vermeintlichen Stillstand).
Ja, das war alles schon mal da, aber
nicht in vielen RPGs der letzten zwei Jahrzehnte und mit Sicherheit
kaum in deutschen und selten in dieser Konstellation. Ich habe in
Spielrunden - und ich vermute in den meisten Online-Diskussionen -
vermutlich weitestgehend Kontakt mit Rollenspielern, die seit mindestens 10
Jahren, aber selten länger als 25 Jahre, spielen. Das heißt, diesen
sind die frühen D&D Versionen meist unbekannt, deren Spielstil
und Ideen sind schwer zu vermitteln (da auch meist schlecht
geschrieben) und sie haben die OSR Entwicklung im Anschluss nicht
mitbekommen, weil sie zu ihren RPG-Anfangszeiten noch nicht
stattfand. Wer die filigranen Details der OSR-Systeme nicht kennt,
wer sich an den (meist reibungslos funktionierenden) Eigenheiten
aufhängt, kann auch ihre gravierenden Unterschiede nicht erkennen oder
wertschätzen. Es geht ja nicht darum, alles "alt" zu machen, sondern den Status Quo zu prüfen. Und das geht am Besten, wenn man von Null anfängt. Ist es für viele noch wichtig zu klären, ob man eher 30 oder 300 Charakterfertigkeiten hat, wird hier gefragt, welchen Zweck sie überhaupt haben und ob man das nicht auch (diesmal) anders regeln kann.
Die OSR ist für Spieler, die schon länger dabei sind also eigentlich neu und
damit erstmal eine Abweichung der "Norm".
Diese Norm sind Spiele, bei denen
beinahe die gesamte Verantwortung für einen erfolgreichen Spielabend
in die Hand des Regelwerks und damit Designers gelegt wird. Der Rest
liegt alleinig beim Spielleiter. Oft, aber nicht zwingend, haben
diese RPG einen entsprechend großen Umfang oder sind so bizarr und
abstrakt, dass sie oft mit hunderseitigen Begleitheften zur
Erläuterung der eigentlichen Regeln kommen. Es sind rein
positivistische Systeme, was dort nicht drinsteht, das kann nicht
sein, vergleichbar mit einem Brettspiel. Ich habe diese Spiele selbst
über 20 Jahre lang gespielt, ich habe 6 Jahre lang eines entwickelt
und geschrieben (beta-Stadium), ich habe VIEL Zeit investiert, die
Möglichkeiten auszuloten und hatte lange keinen Zweifel, dass diese
Spielphilosophie die Zukunft des RPGs sein wird.
Aber meiner Meinung nach steckt der
Ansatz heute in einer Sackgasse. Dies "Neue Schule" hat zwar
herausragend gut funktionierende RPGs hervorgebracht, aber die haben
schon einige Jahre auf dem Buckel. Ihre Nachfolger sind meist
aufgekochte, geschmacksneutrale Eintöpfe, verlängert mit altem Wein
und in einem neuen, mit Hochglanzcover verziertem Schlauch. Was
normalerweise Antrieb des Fortschritts ist - der Output vieler
eigenständiger Designer - ist nunmehr eine Industrie für hochgradig
inkompatible, aber von der Philosophie gleichförmige Spiele, die so
schnell verschwinden, wie sie kommen. Es sind die neuen Heartbreaker!
Die Rückständigkeit, das ist nicht
die Old-School-Renaissance. Die Renaissance ist ein Zeitalter des
Fortschritts. Es geht nicht ausschließlich darum, "zu spielen
wie früher", sondern "dieses Mal machen wir es noch besser und vermeiden die alten Fehler". Die OSR ist frisch und lebhaft, die hat noch Energie und
Entwicklungspotenzial - oh ja, es gibt viele Baustellen - die enthält
mehr Abenteuer pro Spielzeit; aber das kann man nur erleben, das kann
man in den dünnen Regelheften nicht lesen. Irgendwann wird sie
wieder rückständig sein, dann kommt vielleicht irgendjemand wieder
auf die Idee, wie man nur so irre sein kann, eine Probe für eine
Handlung im Konsens einfach zu erfinden, anstatt in einer Liste
nachzuschlagen oder sie mit "Erzählpunkten" zu kaufen und
wer weiß, vielleicht wird es dann auch mal wirklich reibungslos
funktionieren. Aber bis dahin loten wir die derzeitigen Möglichkeiten aus, die noch lange nicht ausgereizt
sind und ich habe dabei so viel Spaß und so wenig Aufwand, wie schon seit
Jahren nicht mehr im Rollenspiel.
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https://forum.rsp-blogs.de/
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