Freitag, 30. Juni 2017

RSP-Blogs Karneval [Jun. 2017] Ruinen als Spielelement

Der Blog Spiele im Kopf veranstaltet den diesmonatigen Karneval der Rollenspiel-Blogs zum Thema "Ruinen".

Hierzu kamen bereits unzählige, tolle Spiematerialien zusammen. Ich möchte aber grundlegender über Ruinen sprechen.
Es kann heute eine große Herausforderung sein, Ruinen als Szenario schmackhaft zu machen. Schnell wird ihnen die Aura monotonen Räume Durchsuchens und stupiden Monster Tothauens verliehen. Dabei bestätigen viele Spieler sich selbst lediglich ihre eigenen Vorurteile. Denn selbst in unserer Realität gehen Ruinen nicht nur buchstäblich in die Tiefe, sondern sind mit der Geschichte verwoben.

Vielleicht liegt die oberflächliche Handhabe daran, dass viele von uns Ruinen - also verlassene und verfallene Bauwerke - nur als Touristen oder von Urlaubsfotos oder aus Büchern kennenlernen. Anderen stehen sie lediglich ihrem schicken Fertigteile-Neubau im Weg. Und für D&D Rollenspieler sind sie meist der Abenteuerspielplatz schlechthin. Deswegen sind Ruinen ein integraler Bestandteil vieler klassischer Rollenspiele. Ich finde Ruinen inspirierend, so wie ein Bild oder ein Lied.
Ruinen können für verschiedene Personen also eine unterschiedliche Bedeutung haben und es lohnt sich bei der Integrierung von Ruinen ins Rollenspiel (RPG) einen kurzen Blick darauf zu werfen. Denn genaugenommen steht die Ruine nur als Schauplatz von Ereignissen im Fokus vieler RPGs. Die Ruine selbst wird meist vernachlässigt. Die RPG-Ereignisse, die Abenteuer, die Monsterbegegnungen, die Fallen, Schatzsuchen usw. die könnte man auch an jedem beliebigen anderen Ort unterbringen.
Etwas ist also am Wesen der Ruine an sich, das fasziniert. Richtigerweise wird zwar argumentiert, dass man in Ruinen nur eine eingeschränkte Bewegungs- und Interaktionsfreiheit mit der Spielwelt hat, die Spielrunde also einen leichteren Umgang mit dem Spiel hat. Jedoch gilt das genaugenommen speziell für den "Dungeon", also eine unterirdische Anlage, die auch nicht zwingend als Ruine vorliegen muss.

Begibt man sich in eine Ruine, dann bekommt man auch Hinweise auf die Nutzung und ihre einstigen Bewohner, den Handwerkern, Baumeistern, Dienern oder Angestellten, die an diesen Orten gewirkt haben. Je nach Anordnung der Anlage gibt die Ruine dabei nicht einfach nur Eindrücke, wo jemand irgendwo mal irgendetwas gemacht hat, sondern wo exakt jemand etwas ganz Bestimmtes an einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit getan hat. Jemand, der keine andere Möglichkeit mehr hat, von sich zu erzählen, dessen Erfahrung aber im Zustand der Ruine nachwirkt und in die wir uns hineinversetzen können.
Dieser vollumfängliche Sinneseindruck lässt sich auch anhand von (Kunst-)Handwerksstücken, z.b. ein Buch oder ein Gedicht, nur eingeschränkt nachempfinden, da ihnen ja die räumliche Zuordnung fehlt.
Die Ruine erzählt also etwas von den Menschen nachdem diese die Bühne verlassen haben, durch ihre einstige Errichtung und Nutzung, aber genauso über die Menschen, nämlich durch ihren Verfall und ihren Zustand. Und je älter die Ruine ist und desto weniger Primärquellen vorliegen, je mehr Zeit also überbrückt wird, desto unmittelbarer kann die Erfahrung und die Verbindung zu seinen Bewohnern oder Erbauern sein. Die Ruine bekommt einen Wert an sich, der mit dem Alter steigt.
Und dieser Wert und der vielfältige Umgang mit der Ruine an sich kann eine große Bereicherung (nicht nur) für ein Rollenspielsetting sein.

Dabei wird schnell vergessen, dass es Ruinen zu allen Zeiten der Geschichte gegeben hat. Der Bestandsschutz von Ruinen als Denkmal ist wohl eine relativ moderne Erscheinung, das heißt, der praktische Nutzen von Ruinen, z.B. als Steinbruch zur Materialgewinnung, war davor von größerer Bedeutung. So finden sich gerade viele Burganlagen als Trockenmauern am Feldrand oder in Behausungen der unmittelbaren Umgebung wieder. Vielfach wurden Anlagenreste in neue Bauten integriert und weiter genutzt.
Das heißt aber nicht, dass die Ruinen keinen Eindruck bei unseren Vorfahren hinterlassen haben und zwar Eindrücke und Erfahrungen, die uns heute verwehrt bleiben.
Als erstes Beispiel sei das frühmittelalterliche Rom genannt. Welche Vorstellungen müssen die gerade noch 20.000 Einwohner Roms gehabt haben, umgeben von Ruinen und pompöser Architektur, täglich erinnert zu werden, in einer einstigen Millionenstadt zu leben, deren höher entwickelter Stand bereits sieben Jahrhunderte zurückliegt und den sie erst im 20. Jahrhundert wieder erreichen sollte? Eine quasi postapokalyptische Atmosphäre, die überall im ehemaligen Weströmischen Reich zu spüren gewesen sein muss. Ein eindrücklicher Hinweis darauf ist vielleicht die berühmte, altenglische Elegie "Die Ruine" (http://faculty.arts.ubc.ca/sechard/oeruin.htm), in die der unbekannte Autor den Reichtum und Fortschritt einer seit langer Zeit in Ruinen liegenden Stadt bedauert.

Ein anderes, prominentes Beispiel im Umgang mit Ruinen findet sich zur Zeit der Aufklärung. Diese war Mitte des 18. Jahrhunderts im vollen Gange und es formierten sich Bewegungen, um der "Vernunft" etwas entgegenzusetzen oder sie zumindest kritisch zu reflektieren und man wandte sich wieder in emotionale, instinkthafte und irrationale Richtungen. Wieder dienten einigen Künstlern die Ruinen als eindrückliche Steilvorlage. Maler wie Piranesi oder Hubert Robert griffen Elemente der Antike und des Mittelalters auf, wie die Klassik und die Gotik, inszenierten und überhöhten sie auf phantastische Weise, oder entwickelten sie weiter.
Giovanni Battista Piranesi (Italy, Mogliano, 1720-1778),Part of a spacious and magnificent Harbor for the use of the ancient Romans opening onto a large market square. Source: Wikimedia Commons
Giovanni Battista Piranesi (Italy, Mogliano, 1720-1778),
Etching of the Pyramid of Cestius in Rome. Source: Wikimedia Commons
Schaut man sich ihre Bilder und die anderer Zeitgenossen an, dann findet man die bekannten, labyrinthartigen Strukturen, endlose Gewölbe und Geheimgänge und entdeckt darin unscheinbare, staunende Gestalten, die ziellos umherirren, unfähig, die höheren Mächte zu begreifen, die all dies errichteten und wieder zu Fall brachten.
Giovanni Battista Piranesi (Italy, Mogliano, 1720-1778), The Pier with Chains.
Source: Wikimedia Commons 
Dabei wird die Hybris jener vergangener Zivilisationen und ihrer Erbauer offengelegt, oder auch der Größenwahn zeitgenössischer Herrscher angedeutet.
Hubert Robert (1733-1808), Imaginary View of the Grand Gallery of the Louvre in Ruins
Source: Wikimedia Commons
All dies fand schließlich Eingang in das sich erst entwickelnde Horror- und Science-Fiction-Genre bis hin zum modernen Pulp und Fantasy, aus denen RPG bis heute zehrt. Was nichts anderes heißt, als dass Ruinen auch heute keine Selbstverständlichkeit sind, die einfach nur die Landschaft verzieren, sondern dass der ganze Umgang mit ihnen eine Grundlage und selbst eine Geschichte hat, die wir im RPG als Hobby weiterführen können, anstatt ihnen einfach einen Hack'n Slay Stempel aufzudrücken. Im Old School D&D Bereich werden diese Konzepte aufgegriffen und diskutiert, z. B. den Dungeon als mystische Unterwelt, natürlich um ihn zu rechtfertigen, aber vor allem um Interpretationsmöglichkeiten zu erschließen.


In diesem Sinne können Ruinen selbst auch eine Spielrunde bereichern. Dies muss nicht allzu verkopft sein und soll Spaß machen, denn die Spielercharaktere haben etwas zu entdecken und zusammenzufügen, was spieltaktische Vorteile bringen kann oder es werden Fragen und Details aufgeworfen, auf die es möglicherweise keine Antworten gibt oder deren Bedeutung verloren ist, was der Spielwelt Tiefe verleiht.
Ich versuche das in einer eigenen RPG-Kampagne auszunutzen und überhaupt jedem Dungeon und jeder Ruine eine Geschichte zu geben. Als stimmungsgebende Atmosphäre in dieser spätantiken Fantasywelt blicken die Bewohner auf eine kulturell höher entwickelte, verlorene Vergangenheit zurück, da ihre Gegenwart in Ruinen liegt und die Zukunft noch unsicher ist, während ganze Völker ziellos umherziehen. Mit jedem Stein, den die Spieler umdrehen, erzählt die Welt damit auch etwas von sich und zwar andere Dinge, als man in einem Tavernentratsch abhandeln kann. Man muss nur zuhören.