Dienstag, 13. Oktober 2009

Ein System für eine Sandkastenkampagne [Teil 5]

Nachdem ich mich in den vorherigen Beiträgen meiner Berichte zur Erstellung einer Sandkastenkampagne mit der Recherche, den Spielweltinhalten, sowie den Werkzeugen zum Umsetzen der Ideen beschäftigt habe, soll es nun zuletzt um das dazugehörige Regelwerk gehen.

In Wahrheit habe ich parallel an Allem gleichzeitig gearbeitet und meine Reihenfolge dient lediglich der inhaltlichen Ordnung und ich würde im Nachhinein auch empfehlen kein Thema aus den Augen zu verlieren. Eigentlich hatte ich vor, daß System vorzustellen, das ich vorhabe zu nutzen, mit allen dafür erstellten Hausregeln, jedoch hat sich herausgestellt, daß es einige Widersprüche und Kompromisse zu beachten gibt. Die Zeit, die ich an Hausregeln für eines der beiden Systeme gebraucht habe, rechne ich selbstredend dennoch in die Gesamtzeit mit ein. Stattdessen geht es jetzt also eher um einen Systemvergleich zweier Ansätze, die unterschiedlicher nicht sein können.

V. Wer die Wahl hat... (Dauer ~3Wochen, Ende offen, Gesamtdauer: 13 Wochen+)

Da meine grundsätzlichen Ansprüche an ein Rollenspiel sehr divergent sind, kann ich mich (noch) nicht entgültig für ein Regelsystem entscheiden. Mittlerweile habe ich jedoch zwei Systeme im Blick, die nebeneinander genannt komisch erscheinen:

Zum einen die GURPS Grundbücher und zum anderen die Dungeons&Dragon4 Grundbücher.

Bevor sich jemand wundert, beide Regelsysteme haben gemeinsam, daß sie es erlauben, einen Charakter verhältnismäßig detailliert in Werten auszugestalten, was ich für einen wichtigen Aspekt der Langzeitmotivation halte. Aus diesem Grund fielen etliche einfachere und eingängigere und vielleicht effektivere Regelsysteme aus der Wahl heraus. Ausserdem haben sie gemeinsam, daß ich beide in Buchform besitze und mich gut damit auskenne. Mit einem unbekannten System würde ich mich an so eine Kampagne auch nicht herrantrauen.

Soweit die Gemeinsamkeiten, kommen wir zu den Unterschieden.


GURPS:

Das Regelsystem von Steve Jackson ist im eigentlichen Sinne kein Rollenspielsystem. Es ist vielmehr ein Baukasten aus dem sich eine Spielrunde ein Regelsystem basteln muss. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Ich möchte das System hier nicht erklären, im Vordergrund von GURPS steht die Simulation von Charakterhandlungen und Ereignissen innerhalb einer Spielwelt. Das heisst, die Regeln zeigen nur, welche Folgen bestimmte Begebenheiten in einer Spielwelt haben, nicht ob deren Vorhandensein oder Konsequenzen einen Einfluss auf den Spielverlauf einer Runde haben (z.b. wie oft und wie lange kommt jeder Spieler an die Reihe?; Wieviel Belohnung ist für Charaktere angemessen?; Welche Abenteuerinhalte sind für welche Art von Charakter geeignet?; Mit welchen Mitteln kann der Spielleiter Abwechslung in die Abenteuer bringen? usw.). Es gibt nicht einmal regelunabhängige Ratschläge dafür. Kurzum: Bei GURPS steht die Spielrunde in der vollen Verantwortung:

Fertigkeitslisten müssen zusammengestrichen werden, Vor- und Nachteile müssen eventuell gestrichen, erweitert oder neu bewertet werden. Unter Umständen muss erst eines der angebotenen Magiesysteme ausgewählt und angepasst werden. Selbst der Spielstil muss anhand der Optionalregeln fesgelegt werden. Und insgesamt muss der Detailgrad ausgewählt werden, wobei zu beachten ist, daß GURPS extrem lückenhaft, manche mögen sagen unausgeglichen, wird, wenn man eine der vielen Regeln heraus nimmt. Man braucht schon einen guten Grund oder große Weitsicht um auf einen Regelaspekt in GURPS zu verzichten.

Ein einfaches Beispiel: Spielt man in offenen Nahkämpfen ohne unbalancierte Waffen, ist der Kämpfer mit der dicken Zweihandaxt der größte Haudrauf. Spielt man dann aber ohne Preise, ist auf einmal derjenige mit dem teuren Zweihänder der größte Kämpfer. Und spielt man dann zusätzlich noch ohne Waffenreichweite ist derjenige mit Hellebarde (einer Formationswaffe!) nahezu unaufhaltsam.

Und diese Wechselwirkungen ziehen sich durch das ganze Regelwerk, zum Teil in viel größeren, nicht immer ersichtlichen Ausprägungen. GURPS ist grundsätzlich gut durchdacht, gibt es eine Regel für etwas, kann man davon ausgehen, daß es einen Grund dafür gibt, der etwas mit dem Ausgleichen von Vor- und Nachteilen hinter diesem Etwas zu tun hat. Dinge hingegen, die ausschliesslich gut sind werden dagegen mit negativen CP bewertet und umgekehrt.

Die Alternative wäre das GURPS-Light System, daß eine einfache Auswahl von Regeln ist, die in sich ausgeglichen erscheinen. Aber ich habe GURPS ja schließlich nicht gewählt, weil es wenig Regeln besitzt. Denn die Regeln eignen sich besonders gut dazu, um einen Spielstil zu betreiben, der sich nicht auf bestimmte Tätigkeiten festlegt, was für eine offene Sandkastenkampagne eine gute Vorraussetzung ist. Möchte ein Spieler z.B. unbedingt Bäcker in einer der großen Städte werden, gibt es garantiert in GURPS eine Regel oder Fertigkeit, mit der er das umsetzen kann. Das ist grundsätzlich eine gute Sache, da die absolute Spielerfreiheit und die Verregelung der gewünschten Aktionen für meine Spielweise ja im Vordergrund stehen soll. Und je gleichmäßiger die Regeln unterschiedliche Aktionen behandeln, desto unwahrscheinlicher ist es, daß sich ein Spieler benachteiligt fühlt. Die Runde muss sich dazu nur unbedingt klar werden, was ihnen am Spiel Spass macht, da GURPS weder Vorschläge gibt, noch die Runde an die Hand nimmt.

Der große Nachteil ist aber die bereits erwähnte Disqualifikation von GURPS als Spiel. Ein Spiel berücksichtigt viel stärker die Ebene ausserhalb der Spielwelt, nämlich die Tätigkeiten am Tisch. Das einzige Zugeständnis dazu macht GURPS beim Grundmechanismus, der in allen seinen Ausbauten spielbar bleibt, aber allein schon durch die Menge an Optionen und einiger kurioser Auswüchse (Stichwort: Fall- und Kollisionsschadensberechnung) fällt es aus der Rolle und verlangt viel von der Spielrunde ab.

Und wie erwähnt liefert es keinerlei Werkzeuge, die es dem Spieler leichter macht einen Charakter zu bauen oder dem Spielleiter die Führung oder Gestaltung des Abenteuers. Ich denke hier an Herausforderungsgrade von Gegnern, Regelgerüste für typische Abenteuersituationen (Verfolgungsjadgen, Verhandlungen, Massenkämpfe,..), reduzierter Verwaltungsaufwand, auf Abenteuerinhalte angepasste Vorschläge zum Charakterbau, Nischenschutz von Charaktertätigkeiten usw. Es gibt zwar einige Zusatzprodukte, wie Dungeon Fantasy, allerdings ist dies wiederum mehr eine Bauanleitung, denn ein komplettes Spiel. Die Gruppe muss sich die Spielmechanismen also erst einmal selber schaffen.


Dungeons&Dragons 4:

Nicht nur seit der vierten Edition tun sich Rollenspieler mit dem Rollenspiel definierenden System schwer, denn es ist abstrakt (wobei es wesentlich abstraktere Regelsysteme gibt, die dann seltsamerweise keine so großen Fragezeichen hinterlassen) und abstrakt muss man es beschreiben. D&D4 ist in fast jeder Hinsicht ein Spiel, das heisst die Tätigkeiten am Tisch haben größere Priorität als die Darstellung der Charaktertätigkeiten in der Spielwelt. Das beginnt allein schon beim Probenmechanismus, der auf schnelles Abhandeln hin ausgelegt ist und hört lange nicht bei der Interpretation von Lebenspunkten, taktischem Figurenkampf und Freiformrollenspiel auf. Die Mechanismen unhinterfragt als Darstellung der Spielweltereignisse zu nehmen ist ein Fehler. Dennoch ist es möglich damit in einer Spielwelt zu spielen, Spielrunden tun dies seit über 30 Jahren.

Ich vergleiche dies immer mit Japanrollenspielen (siehe Final Fantasy und co.) auf dem PC und Konsole. Die Darstellung der Kämpfe in zwei gegenüberstehenden Reihen von Kontrahenten, die abwechselnd einen Schritt nach vorne tun und sich auf die Rübe hauen, während der Gegner still da steht ist höchstgradig unplausibel. Dennoch bieten diese Spiele mitunter höchst dramatische Kämpfe in sehr dichten Spielwelten und Charakterbeziehungen mit ihren Geschichten. Das funktioniert, weil die Darstellung nur eine Bildsprache ist. Die Übertragung auf die Spielwelt muss aber vom Spieler vorgenommen werden und je geschickter die eigentliche Tätigkeit der Charaktere verfremdet wird, desto leichter korrigiert man das unbewusst (man wird in das Rollenspiel gezogen obwohl sich die Figuren äusserst unecht verhalten). Obwohl Computerspiele realistischer werden, funktionieren sie im Prinzip noch alle nach diesem Prinzip. Sehr offensichtliche Beispiele mit starker Verfremdung wären noch Textabenteuer oder Rogue-Like Spiele. Und alle haben sie dies, mehr oder weniger absichtlich, von D&D übernommen (hinreichende Vermutung). Und auf dieselbe Weise kann man auch in D&D4 spannende Geschichten erspielen, obwohl die Charakterhandlungen vor allem in Kämpfen nicht immer direkt dargestellt werden (z.b. kann ein Krieger viele seiner Manöver nur einmal pro Kampf benutzen, die Charaktere bewegen sich auf Feldern usw.)

Es gibt kein Patentrezept dies auch beim Rollenspiel zu erreichen. Grundsätzlich erhöht sich die Möglichkeit mit tieferer Spielatmosphäre/guten Abenteuern/gutem Spielleiter und Mitspieler und der grundsätzlichen Einstellung die Regeln nur als verschlüsselte Botschaft, Medium oder Sprache zu verstehen, die von der Spielwelt berichtet. Ich finde es erstaunlich, wie man über diesen Umweg sich eine von den Regeln losgelöste Spielwelt vorstellen kann. Die Spielwelt geschieht dann in der Vorstellung, alle anderen Störelemente, inklusive der Regeln, passieren am Tisch (zusammen mit den Chips und Spielmaterialien). Das kann eine ganz andere Qualität bieten, als wenn man die Spielwelt mit direkt simulierenden Regeln abgleichen muss, bei der Spielwelt und Regeln viel direkter verknüpft sind (und man sie sich entsprechend schlechter wegdenken kann).

Natürlich schränkt dies die Auswahl an Handlungen massiv ein, wenn man wert auf Verregelung setzt, denn D&D simuliert nur wenig. Es bietet Regelgerüste für genau eine bestimmte Form des Rollenspiels und Tätigkeiten: Selbstständige Helden, die für Reichtümer und Schätze überwiegend Kämpfe und andere Herausforderungen bestehen, um massiv an Macht dazuzugewinnen. Hat eine Runde schon diese, ganz konkrete Spielweise vor Augen, ist man mit D&D sehr gut bedient, denn in Folge dessen ist weder für Spieler noch Spielleiter so gut wie kein Mehraufwand nötig. Man kann problemlos alle Regeln nutzen, da die Menge überschaubar ist und man muss so gut wie nichts nachkorrigieren, wie es bei Rollenspielbaukästen der Fall ist.

Das Problem bei meinem gewählten Ansatz liegt auf der Hand. Ich möchte Charakterhandlungen verregelt sehen um Spieler fair zu behandeln und sie langfristig mit den Regeln zu beschäftigen und zu motivieren, das bietet D&D4 aber nicht. So wie ich in GURPS mir alle spielmechanischen Aspekte nachbauen muss, muss ich in D&D4 also alle simulativen Aspekte nachbauen. Dazu gehören z.b. Regeln für das Handwerk, Konstruktion und Reperatur, zu Berufen, zusätzliche Fertigkeiten und Fertigkeitsoptionen, Regeln für das Handeln, detaillierte Erstellung magischer Gegenstände, Verletzungsregeln usw.

[Anmerkung: Warum benutze ich also nicht einfach D&D3.5? Zum einen halte ich D&D4 von der Komplexität her für wesentlich weniger aufwändig, spielbarer und schneller (“Turn undead” werde ich in diesem Leben nicht mehr lernen und “Magic Item Crafting” habe ich noch nie verstanden), die Charaktergestaltung halte ich für ausserodentlich eingeschränkt (Zusatzbücher zählen nicht) und die Magie unausgeglichen. Zudem ist mir das Machtniveau von D&D3.5 gegenüber D&D4 viel zu stark. Unterschiedliche Charakterklassen können sich zudem gleichberechtigt in der Gruppe beteiligen. Zuletzt aber bietet D&D4 die wesentlich brauchbareren Werkzeuge für den Spielleiter. Auf das System der Herausforderungsgrade kann man sich meiner Erfahrung nach wirklich verlassen und Monster zu erstellen und zu modifizieren ist kinderleicht.]


Vielleicht ist ein bisschen klar geworden welche beiden Ansätze ich über die unterschiedlichen Regelsysteme nutze um zu demselben Ergebnis zu kommen und warum es so schwer fällt sich festzulegen und was man meiner Meinung nach dabei zu beachten hat. Meine fertigen Hausregelvorschläge zu D&D4 stelle ich evt. nach und nach hier zur Verfügung.

An dieser Stelle setze ich die Planung einer Sandkastenkampagne auf “ende offen”, zumal meine Rundensituation im Moment keine Möglichkeit für den Start einer offenen Kampagne zulässt. Mindestens 3 Monate mit Pausen, insgesamt circa ein halbes Jahr, habe ich mit wenig Vorwissen bislang daran gesessen, was meiner Vorabplanung ungefähr entspricht. 1 Woche oder gar 8 Stunden, wie man manchmal zu Lesen bekommt, halte ich für sehr unrealistisch. Ich hab es als viel Arbeit und Aufwand empfunden und die Gestaltung würde mit jedem fortschreitendem Spielabend vorrangehen. Ich denke, daß auch andere Spielleiter, mal ganz ohne Schönreden, Versprechungen und Werbung machen für eine offene Kampagne, mehr oder weniger mit diesem Zeitraum rechnen müssen. Dennoch bin ich überzeugt, daß sich der Aufwand lohnt und zu einem befriedigenderen und selbstbestimmten Spiel führt, für Spieler und Spielleiter. Ich hoffe die Berichte helfen dabei, sich einen Einblick in die Planung zu verschaffen, um zu entscheiden, ob man sich darauf einlassen will.

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