Sonntag, 15. Mai 2011

Alle Rollenspiele neu, macht der Mai

Die RPC 2011 ist vorbei und es wurden wieder viele neue, neu aufgelegte und bislang unbekannte, hochinteressante Rollenspiele gefeiert. Und ich beglückwünsche alle Autoren, deren Rollenspiele Preise eingeheimst haben, ausverkauft wurden oder neue Rollenspieler gewinnen konnten.
Und ich möchte die Feierstimmung auch nicht unnötig trüben, aber als gewohnheitsmäßiger Muffel und Skeptiker fällt es mir schwer mich über gute Dinge unhinterfragt einfach mal nur zu freuen und schaue auch auf die Schattenseiten.

Diese unzähligen Rollenspieleintagsfliegen, Fließbandrollenspiele und Trittbrettfahrer der letzten Jahre machen mich noch fertig!

Mittlerweile sprießen neue Rollenspiele wie Pilze aus dem Boden. DungeonSlayers, Barbarians of Lemuria, Labyrinth Lord, Aborea, Dragon Age, Nova, Malmsturm, Lamentations of the Flaming Princess, Dresden Files, Justifieres und was weiss ich nicht noch alles. Dazu all die Neuauflagen von bereits mumifizierten Altsystemen, die kaum noch jemand spielt. Und alle haben sie dasselbe Problem:
Alle machen sie einen verdammt guten Eindruck. Jeder Freizeitdesigner kann heutzutage mit Photoshop und MS Office akzeptable bis gut aussehende Ergebnisse produzieren, so daß ein Rollenspiel toller wirkt, als das Andere. Und die meisten erfüllen sicher auch ihr Designziel, das war vor einigen Jahren anders, in denen vor allem Designmüll und Experimente produziert wurden. Ich würde sagen, gefühlt hat die Durchschnittsqualität der Rollenspiele insgesamt zugenommen. Und die Veröffentlichung ist heute so unproblematisch, daß es kein finanzieller Aufwand mehr ist, eigene Rollenspiele vielen Spielern zugänglich zu machen. Das sind Erfolge, für die man früher eine riesige Logistik in Gang bringen musste. Und, nicht zuletzt, alle Rollenspiele sagen sie auf sehr effektive Weise: SPIEL mich, KAUF mich!

Das ist nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch. Ich bin sehr anfällig für diese Rollenspiel Marketinghypes, so daß ich im Moment nichts lieber tun würde, als sofort eine neue Kampange mit einem der neuen Systeme anzufangen.

Aber ich weiss, daß das falsch ist.

Und stattdessen schaue ich zurück und sehe die Rollenspiele, die ich so zur Verfügung habe, D&D, Savage Worlds, DSA, Earthdawn, Unisystem, GURPS, Arcane Codex, Midgard usw. ....*gääähn* und ich werde schon wieder unzufrieden, weil ich nicht in die neue, schöne, glitzernde Rollenspielwelt eintauchen kann. Aber von dort schaue ich dann wieder nach vorne und überlege, welchen Eindruck denn DIESE alten Rollenspiele gemacht haben. Arcane Codex hatte damals auch ganz laut geschriehen "kauf mich, spiel mich!". Und ich habe darauf gehört, und es hat sich im Grunde nichts geändert. Warum sollte es also diesmal anders sein, wieder alles über Bord werfen und anfangen z.B. DungeonSlayers zu spielen?
Natürlich wird sich nichts ändern, weil kein System fehlerlos ist und der Spielspass größtenteils von der Rundenabsprache abhängt.

Die Rollenspielschwemme erreicht in erster Linie diese Dinge bzw. sie zielen darauf ab:

1 sie schüren die Unzufriedenheit über das eigene System. Die einzige Chance für neue Rollenspiele am Markt ist es, uns Rollenspieler davon zu überzeugen, daß sie gebraucht werden. Eine Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat. Das ist auch logisch, denn man kann ja nur ein Rollenspiel zur gleichen Zeit spielen. Man muss den neuen Spieler überzeugen, warum ausgerechnet dieses neue Rollenspiel nun besser ist (ein paar Blicke in die Argumente und Berichte der entsprechenden Designblogs und Foren genügt für diesen Eindruck schon).

2. viele bauen auf Oberflächlichkeit auf. Was zählt, ist nicht mehr das Langzeitpotenzial, sondern wie schnell man mit möglichst wenig Aufwand möglichst schnellen Spass daraus zieht, damit es sich möglichst schnell, beim möglichst ersten Testversuch möglichst weit verbreiten kann. Ein Rollenspielautor kann nicht mehr damit rechnen, daß eine nennenswerte Anzahl von Spielern auf sein Rollenspiel aufmerksam wird, also muss man in die Vollen gehen, gutes Artwork, unmittelbarer Spielspass, irgendwie herausstechen. Die Arbeit, die man in Synergien und Struktur steckt, die wird dem Testspieler nicht unmittelbar bewusst und ist somit keine Hilfe.
"Hast du gehört, da gibt es dieses neue Rollenspiel?" – "Wie ist es denn?" - "Das weiss ich nicht, aber es kommt in einer Box und hat eine geile Karte" – "Na, das muss ich haben!".

3. sie werden u.A. herausgebracht, um sich selber zu feiern und die Konkurrenz zu beeindrucken. Die Verlagsszene ist so klein, daß sie sich ständig in einem freundschaftlichen Worlds-Next-Top-RPG-Contest mit sich selbst befindet. Es zählt nur, wie gut die RPGs produziert sind. Das ist auch legitim und verständlich, jeder will zeigen was er kann und Web2.0 ermöglicht dies; aber wer spielt das denn noch alles, und wer interessiert sich WIRKLICH dafür, ausser die Autoren und kleine, eingeschworene Gemeinden? Geht es hier wirklich noch um die Spieler oder entsteht hier eine Rollenspieldesigner-Subsubkultur? Würde sich jemand für all die durchaus guten Rollenspiele ernsthaft interessieren, gäbe es viel mehr Fanmaterial und Fanseiten. Rollenspiele wie DSA sind durch den Fanbeitrag erst groß geworden. Diese Kultur ist heute aber beinahe ausgestorben. Cyric beobachtet ähnliches und kritisiert hier das Aussterben eines der detailliertesten Rollenspielwelten überhaupt, das neu aufgezogen und zu Gunsten der "Einsteigerfreundlichkeit" nur noch oberflächlich weitergeführt wurde. Ähnliches wiederfuhr der Shadowrunspielwelt oder der World of Darkness. Natürlich, es lohnt sich ja auch nicht mehr Schweiss und Blut in ein vorhandenes Rollenspiel zu stecken, wenn man weiss, daß ein Großteil der Spieler zum nächsten großen Rollenspielevent abwandern wird.
Was übrig bleibt ist eine Sammelkultur, was aber nicht daran liegt, daß niemand mehr selber schreibt, sondern, weil statt Fanmaterial nun die selbsterstellten Spiele heute alle ihre 15 Minuten Ruhm erhalten. Es ist nicht mehr notwendig für andere Rollenspiele zu schreiben. Was früher "Heartbreaker" war, und sich aufgrund hässlicher Präsentationen und abgekupferter Mechanismen niemand mit dem Hinterteil angesehen hat, ist heute "Retro-" oder "indie" und sieht dabei toll aus, sonst hat sich nix geändert.

4. viele werben mit einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Es gibt buchstäblich unzählige Aspekte, von dem das Wohl und Wehe einer Spielrunde abhängt. Die einzige Möglichkeit, als Konkurrenzprodukt hier auf Kundenfang zu gehen ist, den Rollenspieler davon zu überzeugen, daß alles gut wird, wenn er denn nur zu diesem neuen, einfacheren/ flexibleren/ schnelleren/ eingängigeren/ usf. Rollenspiel wechseln würde. Und wie in jedem Anfang, wohnt auch dem Systemwechsel ein Zauber inne, der erstmal alle Probleme vergessen lässt. Wenn aber dieselben Rundenprobleme, oder auch mal neue, nach gewisser Zeit wieder auftauchen, hat man nichts erreicht, sucht die Ursache wieder im Rollenspiel selbst und versucht die Probleme mit dem nächsten Wechsel zu beheben.

Nun gut, was habe ich nun von den vielen Neuveröffentlichungen? Was bringt es mir als Midgard-, Arcane Codex-, Iron Kingdoms-, GURPS- , D&D- und Savage Worlds Spieler jedes halbe Jahr ein neues Rollenspiel zu bekommen? Effektiv gar nichts. Einen funktionierenden, reibungslosen Spielbetrieb aufzubauen kann Jahre dauern und sollte nicht unüberlegt aufgegeben werden. Diese Rollenspielschwemme richtet sich also nur zum Teil an Altrollenspieler. Deswegen spricht man auch vermehrt von Einsteigerrollenspielen, eine Art Unwort des Jahres, das sich meistens nur über die Seitenzahl definiert. Warum soll nur wenig Inhalt etwas für Einsteiger sein? Wir haben damals ohne Rollenspielguru mit DSA angefangen, weil es komplex war und wir hatten früher auch Computerspiele als Alternative. Regelleichte Einsteigerrollenspiele zeigen nur eine Seite des Rollenspiels und vermitteln damit ein unvollständiges Bild. Ich habe den Eindruck, anstatt Neulingen die ganze Welt des Rollenspiels zu zeigen, möchte man sie von Start weg an den unkomplizierten, schnellen Spass mit möglichst wenig Regeln heranführen, der zur Zeit im Trend liegt. Nicht, daß ich etwas gegen regelleichte Rollenspiele hätte, aber was hier fehlt, ist der Blick für das Ganze. Diese Spiele sollen zudem eine geringe Einstiegshürde besitzen, jedoch ist eine Einstiegshürde etwas anderes, als ein regelleichtes Rollenspiel. Man kann auch komplexe Regelwerke mit niedriger Einstiegshürde schreiben, jedoch erfordert dies mehr Aufwand und mehr Verständnis, es wundert also nicht, daß sie in der Welt der schnellen Erfolge nicht sehr verbreitet sind.
Was nützt Einsteigern ohnehin die zweite, dritte, vierte Inkarnation von D&D? Ist das wirklich ein Marktvorteil, wenn es alle tun? Und kann man nicht davon ausgehen, daß der Markt irgendwann gesättigt ist? Es scheint mir eher so, als gräbt man sich hier gegenseitig das Wasser ab und Einsteigerrollenspiel ist nur ein modernes Werbewort, bei dem dasjenige mit dem größten Neonschild gewinnt. Und was ist aus den anderen, eingängigen Spielen geworden, Funky Colts, MouseGuard, Wushu, FengShui, Microlite20, Unisystem, Liquid uvm. Was ist mit der D&D3.5 Einsteigerbox? Wo sind die Zurufe für diese Systeme geblieben? Sind die nicht mehr gut genug? Es scheint, als sei das Communitygedächtnis manchmal recht kurz.

Mich würde es wesentlich mehr freuen, und es wäre wesentlich verwertbarer, wenn es wirkliche Innovationen und Bewegungen in den Rollenspielen gäbe, die schon existieren. Die Leute, die sich wirklich für das Rollenspiel anstatt für persönliche Erfolge interessieren, haben genügend Möglichkeiten wirklich sinnvolle Dinge zu tun, z.B. das Schreiben von Alternativen Regelmodulen. Wenn ein Regelaspekt eines Rollenspiels fehlerhaft oder nicht beliebt ist, wieso schreibt man dann ein eigenes System, wenn es mit einem alternativen Regelteil doch wesentlich effektiver gelöst wird wie damals das QVAT Kampfsystem für DSA3?
Es gibt diese löblichen Projekte auch heute noch, wie das wilde Aventurien oder Rakshazar für das Schwarze Auge auf Savage Worlds.
Talentierte Autoren schreiben und beteiligen sich heute häufig, so hat es den Anschein, an den Projekten, die schnellen Erfolg versprechen und in denen sie sich und ihre Ideen stärker einbringen können. Es ist eben viel motivierender eine eigene Vision zu veröffentlichen, als ein Modul für ein 20 Jahre altes, behäbiges Ungetüm zu schreiben.
Gerade einfache, schnörkellose Systeme sind sehr erfolgreich, aber mal Hand aufs Herz: Jeder, der ein paar Jahre Rollenspiel spielt und sich mit den großen Systemen auskennt, kann sich ein Attribut+Fertigkeit gegen Mindeswert-System aus der Nase ziehen (und das hat früher ja auch jeder getan). Für mich sind das Wegwerfsysteme, in die man massiv eigenen Aufwand investieren muss, um langfristig (4 Jahre aufwärts) spielen zu können. In erster Linie sind sie gut geeignet als Ideengeber für eigene Hausregelumsetzungen. Ich nutze sie genauso, wie damals die Heartbreaker, was sie schlussendlich auch sind.

Und deswegen konzentriere ich mich jetzt auch verbissen auf die Rollenspiele, die mir zur Verfügung stehen. Ich will nicht schon wieder wechseln. Die Frage ist, wie man sie aufpeppeln kann, um dieses Wechselbedürfnis abzuschütteln? Midgard z.B. macht für mich im Vergleich zu Aborea einfach einen unglaublich öden und grottigen Eindruck, vermutlich zu Recht, aber Aborea hat seine eigenen Probleme, also ist es als erste Maßnahme besser, wenn man seinen Spielspass irgendwie erhalten kann.
Den Spielspass sichert man über die Rundenabsprache. Das beinhaltet alle Aspekte, die eine Spielrunde betreffen und die geklärt werden sollten, bevor man anfängt zu spielen. Vielen erzähle ich damit sicher nichts Neues (man kann es trotzdem nicht oft genug wiederholen).
Meist wird diese Absprache um das Rollenspiel, das bereits vorhanden ist, herumkonstruiert. Die Rollenspielwahl steht nicht selten an erster Stelle und das ist meiner Meinung nach ein Fehler. Die Spielwelt und die Regeln müssen direkt in die Absprache einbezogen werden. Ein Regelwerk kann noch so gut sein, es bringt nichts, wenn ein Spieler keinen W6 Mechanismus mag; und ein noch so schlechtes System kann einem Spieler aus anderen, einfachen Gründen gefallen. Dies ist aber keine Freifahrt für fehlerhafte Rollenspiele, "System mattert" für mich immer noch. Man darf dann nur keine Angst haben, etwas an den Regeln oder an der Spielwelt zu ändern. Ich weiss, viele Rollenspiele vermitteln den Eindruck, daß man ein Gesamtkunstwerk zerstören würde, wenn man selber etwas ändert, zudem stört es viele Spieler, wenn sie die Bücher dann nicht mehr vollständig verwenden können. Aber keine Scheu, das kann man, wenn man weiss, was man will. Wenn die Rollenspielschwemme eines zeigt, dann, daß es jeder kann. Es mag ein Kompromiß sein, aber es ist besser, als ein Systemwechsel und wesentlich weniger Aufwand, als ein eigenes Rollenspiel zu schreiben, denn dort würden sich wieder neue Probleme ergeben, mit denen man sich herumschlagen darf, versprochen. Meine Runde hat in den letzten 5 Jahren mindestens 8 vollständige Rollenspielwechsel hinter sich gebracht und es hat alles, aber keine Probleme gelöst.
Schlussendlich geht nichts über ein auf eine Runde personalisiertes System, denn das ist im Grunde genau das, was diese Indierollenspiele und Einsteigerrollenspiele darstellen. Ein Rollenspielwechsel stand auch für diese Rollenspielautoren an letzter Stelle. Die meisten Probleme, die man mit Rollenspielen hat, lassen sich selber lösen, Das Versprechen, das bei einem Neuanfang alles besser wird, ist oft nur ein Schein.

Es gibt mittlerweile Rollenspiele für jede Geschmacksrichtung, die sich zum Teil nur marginal voneinander unterscheiden. Das führt aber dazu, daß jeder Rollenspieler seine Vorlieben mit einem fertigen Produkt befriedigen kann und es immer schwerer wird, auf eine gemeinsame Basis zu gelangen. Es ist ja auch nicht mehr nötig Kompromisse einzugehen, wenn man es denn nur schaffen würde, seine Mitspieler - nur noch dieses eine Mal natürlich - zu einem Wechsel zu diesem genialen Rollenspiel zu bewegen, das man entdeckt hat. Es gibt so viele Gründe, Spass in einer Rollenspielrunde zu haben. Das System und die Spielwelt sind wichtig, aber sie stehen längst nicht an oberster Stelle und sie müssen sich den Ansprüchen der Spieler unterordnen, denn der Faktor "Mensch" lässt sich noch nicht in ein Rollenspiel hineinschreiben.
Schaut hinter den Nostalgieschleier, überlegt euch, was euch früher an euren ersten Runden gefallen hat und wieso ihr Spass hattet, bevor ihr die Rollenspielwechsel durchgemacht habt. Das sind die Dinge, auf die man sich konzentrieren muss und die kann einem kein noch so gutes, schönes, neues Rollenspiel bieten.

ihr könnt das Thema auf dem RSP-Blogs Forum diskutieren



Sonntag, 8. Mai 2011

Wie die Neunziger das Rollenspiel vergifteten...

... oder wie ich den Rollenspielfrust besiegte.

Ich weiss, die achtziger und siebziger sind en Vogue im Rollenspiel, weil sie doch die Werte des "old School" Rollenspiels festigten. Aber viel gravierender waren die Einschnitte, die sich danach ergaben und das Rollespielverständnis bis heute festigten. Mit nicht immer wünschenswerten Ergebnissen.

Als ich in den Neunzigern mit Rollenspiel anfing, bin ich natürlich auch auf die ganzen, hohlen, damals aktuellen Versprechungen des Rollenspiels hereingefallen.

Damit litt ich mit vielen anderen gleichaltrigen Rollenspielern unter den Messiasströmungen der Mitachziger, Frühneunziger, für die wir selber ja gar nichts konnten. Als man anfing, so erzählen die Weisen, das simple, allumfassende Dungeonvergnügen vorurteilshaft zu ächten und als niveaulosen Zeitvertreib für Minderbemittelte darzustellen. Als die adaptive Radiation des Rollenspiels einsetzte, weil "Dungeoncrawl (tm") nicht mehr gut genug war. Das ist das Erbe, mit dem wir Nachzügler auf das RPG losgelassen wurden. Mit fatalen Konsequenzen.

Für mich war das der lange, langsame Weg in die enttäuschten Erwartungen , der Frust über das Rollenspiel und der Verlust jeder Motivation. Warum war das so und was waren die Versprechungen?

Das sich irgendwann der Gedanke festsetzen musste, Filme und Bücher im Rollenspiel so dramatisch nachspielen oder gar erspielen zu können, wie man sie aus den Medien kennt, war in der Geschichte des Rollenspiels nur eine Frage der Zeit, scheinen Rollenspiele in ihrer Freiheit doch beiden Medien überlegen zu sein. Rollenspiele funktionieren aber nicht wie Bücher oder Filme. Die Schwerpunkte liegen bei Aspekten wie Entscheidungsfreiheit und offenem Ausgang. Es hat seinen Grund, warum bestimmte Dinge im Film oder Buch Off-Screen geschehen. Denn vieles von diesen Dingen besteht aus langweiliger, unspannender Fleißarbeit. Insbesondere im Bereich Wissenschaft und Technik zeigt sich, daß sich das dramatische Element sehr schnell erschöpft. Was im Buch mit wenigen Worten erläutert wird, wird im Film durch Montagen und Szenensprüngen aufgepeppelt, bis man den Eindruck hat, man würde eine aufregende Achterbahnfahrt erleben. Was aber in Film und Buch ein adäquates Mittel mit Mehrwert darstellt, hat bei einer Übertragung in das Rollenspiel zur Folge, daß ein Großteil der Screentime mancher Charakterkonzepte oder Ereignisse komplett übersprungen werden muss. Wer jemals in einem Labor stand, weiss, daß es meistens nicht so aufregend abläuft, wie in einer C.S.I Montage und schon gar nicht wert ist, nachgespielt zu werden. Das Rollenspiel bedient sich hier anstelle des Films des Mittels der "Probe" oder der Beschreibung, aber mit demselben Zweck: eine nicht darstellbare Szene zu überspringen. Aus dem Grunde bin ich auch der Meinung, daß sich Handwerker, Wissenschaftler und andere, technische Tätigkeiten, nicht so gut als Charakterkonzepte eignen. Sicher, die "Probe" oder die Beschreibung erlaubt es, diese Charaktere zu spielen, nur ist das Einzige, was man damit erreicht, das Aussetzen der eigenen Spielzeit. Wieviel Screentime hatte Scotty auf Raumschiff Enterprise denn nun wirklich und welcher Spieler würden diesen Ablauf wirklich gerne so erleben?

Doch es war ja nicht genug, daß die Abenteuer filmisch gleichsetzen sollten. Die Charaktere selbst sollten fortan tiefsinnig und niveauvoll sein. Man sollte sich selbst verwirklichen können. Der mutige Krieger, der für sich und seine Freunde in jeder (!) Spielsituation einsteht, war nicht mehr literarisch genug. Es musste doch auch möglich sein, z.B. einen verträumten Dichter in Schaffenskrise, der in seiner Wunschkarriere eigentlich mal Vogelzüchter werden wollte, zu spielen. Leider kamen dabei oft Charaktere heraus, die einfach nicht dafür geeignet sind, im Mittelpunkt zu stehen, sondern eher abseits am Rande. Das sind nicht selten Charaktere, die sich nur mit sich selber und ihren Problemen beschäftigen. Gar Charaktere, mit denen sich der entsprechende Spieler im Traum nicht würde identifizieren wollen. Der Freak als Selbstzweck: Weil man es darf. Im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen ist aber die Definition eines Spielercharakters. Spielercharaktere sind hervorstechende, führende und soziale Persönlichkeiten, ein normaler Spielverlauf kann sonst gar nicht stattfinden.

Auch gemeinsam zu handeln ist eine Vorraussetzung für Spielercharaktere. Für mich ist es immens wichtig, daß sich jeder Spieler im Spiel beteiligen kann. Es geht dabei nicht um vereinzelte Szenen, in denen nur ein Charakter agieren kann (wie ein Schurke, der vorrausschleicht, um die Wachmannschaft auszukundschaften), das ist unvermeidlich und kann mit besagten Mitteln abgekürzt werden.

Diese Gemeinsamkeit habe ich in diesem (pseudo)Intellektuellenspiel aber nie gefunden. Im Ballsaal eines Herzogs zu stehen ist nicht damit gleichzusetzen, daß der Spieler des unzivilisierten Barbaren, der sehr spezialisiert auf Kampf ausgelegt ist, fortan seinen Mund zu halten hat, weil diese Situation nicht für ihn ausgelegt ist. Oft wird dann die Frage der Effektivität gestellt. Aber man muss es einfach so sehen, daß ein unzivilisierter Barbar im Ballsaal eines Herzogs steht und dann einfach so handeln. So eine beispielhafte Szene ist doch kein Spielerausschluss, es ist eine Einladung sich jetzt erst Recht einzubringen. Das ist doch die Quintessenz des Rollenspiels. Nicht zuletzt ist dies doch auch eine große Spaßquelle. "Loosing is' fun" heisst es nicht ohne Hintergedanken im Rollenspiel. Man spielt Persönlichkeiten, keine Werkzeuge. Und eine Persönlichkeit kann sich immer einbringen.

Warum das effektive, roboterhafte Spielen eines Charakters eine Schwäche der Neunzigerauslegung des Rollenspieles ist, anstatt eine der früheren Ansätze? Kritisierte ich nicht zuvor den hohen Anspruch der tiefsinnigen Charaktere? Nun, zum Einen, weil es eben genau dem szenischen Verständnis entspricht. Ein bestimmte "Szene" sei für einen bestimmten Charakter gedacht, in der er am besten zur Geltung kommt, entsprechend einer Bühne. Alle anderen Charaktere würden dieses inszenierte Geschichtskonstrukt "stören".
Und zum Anderen, weil dem m.E. ein falsches Verständnis von Nische zu Grunde liegt. Eine Charakternische ist ein Aktionsbereich, in dem ein Charakter besonders erfolgreich ist. Die Nische, im alten Dungeons&Dragons Verständnis bedeutet, daß alle Charaktere gemeinsam an einem Strang ziehen können, ohne sich in die Quere zu kommen, aber jeder kann sich immer einbringen. Die Nische aus den "wilden Jahren" des Rollenspieles bedeutet allerdings: Man sucht sich individuell aus, was einen persönlich interessiert und blendet den Rest aus. Spezialisierungen oder Nischen sind somit nur noch eine Methode der Spieler, sich sukkzessiv aus Inhalten des Spielabends, die sie nicht interessieren, zu entfernen. Und sich damit aus dem Spiel. So beschweren sich Spieler gerne mal, wenn sie im Kampf angegriffen werden, wo sie doch den Sozialcharakter spielten und sich "im Kampf gar nicht beteiligen wollten". Dies ist auch häufig ein untrüglicher Hinweis darauf, daß es Unstimmigkeiten in der Absprache der Spielrunde gibt, eine "moderne" Prozedur, die immer noch nicht sehr beliebt ist. Auch diese Abneigung stammt m.E. aus der Zeit, als man die eigenen Vorlieben, die man im Rollenspiel umsetzt, als selbstverständlich erachtet hat und man annahm, daß jeder im Rollenspiel dasselbe wollte. Man spielte Rollenspiel, was gibt es da zu diskutieren?
Aber wenn eine Runde z.B. eine Agentenkampagne im Stile von James Bond mit eigenem Hauptquartier am Fuße eines Vulkans spielen will, und einer der Spieler würde gerne den wortkargen Nachtwächter an der Toreinfahrt spielen, der im Wachdienst philosophische Welträtsel löst, dann sollte man sich Gedanken machen, ob man wirklich noch dasselbe Spiel spielen will. Das Wort "Nische" wird hier lediglich missbräuchlich als Mittel benutzt, die eigenen Vorlieben über die der Runde zu stellen oder zeigt die Unfähigkeit, Interessenkonflikte überhaupt wahrzunehmen. Es erfüllt nur noch die Funktion eines Schutzwalles, den man errichtet, um "seine" Interessen vor denen der Runde zu "schützen". Es fehlt der Rückhalt, wenn die Mitspieler nur die Erfüllung ihrer eigenen Nischen verfolgen. Dies ist meiner Ansicht nach einer der Hauptgründe für eine Motivationsbremse im Rollenspiel.
Die Selbstverwirklichung, das Szenenspiel mit Spielerauschluss, das Abkapseln durch Charakternischen, all das spiegelt den egoistischen Ansatz, das ICH-Verständnis der Neunziger, wie ich es erlebt habe, wider. Die Mitspieler der Spielrunde sind keine Gefährten mehr, die gemeinsam an einem Strang ziehen, um große, spannende Fiktion zu erschaffen, sondern nur noch das notwendige Übel, gegen die man sich absichern muss, um möglichst viele der eigenen Interessen auf Kosten der anderen durchzubringen. Die Spielrunde ist nur noch ein Mittel zum Zweck, um selber möglichst viel Spass zu haben, ohne durch die Mitspieler daran gehindert zu werden.
Ich habe diesen Zirkus jahrelang Punkt für Punkt durchexzerziert und muss es bis zum heutigen Tage noch miterleben, so prägent war diese Phase meiner Erfahrung nach für das gesamte Rollenspiel. Was dabei Anstieg, war jedoch nur die Unzufriedenheit und der Zweifel über das Rollenspiel als Medium. Das ist zu erwarten, wenn man mit den falschen Ansprüchen das falsche Werkzeug verwendet. Der Ausweg aus diesem Teufelskreis war die einfache Erkenntnis, daß Rollenspiel nur ein SPIEL ist, aber eben auch nicht weniger als ein Spiel. Wie alle Werkzeuge, kann auch Rollenspiel nicht alles. Ja, das kann bedeuten, daß man seine Ansprüche senken muss, allerdings ist der Fokus auf die Dinge, die Rollenspiel GUT kann, die auf Gemeinschaft und Geselligkeit beruhen, ein sehr starker und beinahe unerschöpflicher Motivationsmotor, denn innerhalb der Grenzen des Rollenspiels kann es seine Variabilität und Freiheit so ausspielen, wie kein anderes Medium.
Die Pfeiler des RPGs sind meiner Ansicht nach soziale Charakterinteraktion und Kampf, sowie alle Arten von taktischen oder strategischen Überlegungen. Es ist so simpel, wie es klingt, denn in beiden Fällen können sich alle Spieler beteiligen. Das es Ausprägungen in beide Richtungen gibt (mal mehr Kampf, mal mehr Charakterinteraktion oder der komplette Verzicht auf eines. Soll auch schonmal vorkommen), spielt hierbei erstmal keine Rolle. Ebenso legitim ist es, eben jene Charaktertätigkeiten oder Ereignisse ins Spiel zu bringen, die sich nur über eine Probe oder eine Beschreibung darstellen lassen. Das ist gut und wichtig, allein, man sollte vermeiden, darauf das Fundament eines Charakters oder des Rollenspiels aufzubauen, denn diese Konzepte können Rollenspiel nicht tragen. Dasselbe gilt für viele egozentrische oder verkopfte Charakterkonzepte.

Ein Rollenspiel ist ein Spiel, das auf bestimmte Themen und Tätigkeiten ausgelegt ist und als Gesellschaftsspiel beschränkt es sich auf die Themen, die man gemeinsam bespielen kann. Es ist z.B. kein tragfähiges Spielkonzept, das Rollenspiel auf das Reisen durch beeindruckende Landschaften zu fußen, da man sie nur mit Beschreibungen darstellen kann und ausser dem Spielleiter effektiv niemand mitspielen kann. Ein Buchautor ist ebensowenig ein tragfähiges Charakterkonzept, weil sich seine Tätigkeit nur dadurch darstellen lässt, daß man sie überspringt. Das ist im Film, wie im Buch, wie im Rollenspiel nicht anders, aber die ersteren beiden Medien sind nicht abhängig vom Beitrag des Teilnehmers.

Mit dieser einfachen, effektiven Neuorientierung, der Bewusstwerdung auf die Grundwerte des Rollenspiels und dem Ablegen der unrealistischen Ansprüche der "beatnik nineties" habe ich mich dann neu in das Vergnügen Rollenspiel gestürzt. Mit großem Erfolg, denn all die Dinge, die ich vorher ausser Acht gelassen habe, weil sie das "dramatische, niveauvolle" Geschichten erzählen nicht unterstützten, wie z.B. das Sandboxspiel, haben sich in ihrem Bereich als wesentlich effektiver herausgestellt, als all die Krücken, die versuchen den Film oder das Buch zu kopieren, um ein schlussendlich persönliches Spasserlebnis zu verwirklichen. Wenn es nicht kaputt ist, soll man es nicht reparieren, heisst es doch.

Mein Spielspass und meine Motivation ist seitdem ungebremst. Die Abenteuerverläufe sind einfacher gestrickt, die Ereignisse undramatischer und die Figuren geradliniger, aber der planerische Anspruch und die Herausforderung, die Anteilnahme im Spiel, der kontinuierliche Spielverlauf, die Entspannung am Spielabend und vor allem der Spielspass sind um so ein vielfaches höher, daß ich die damaligen Irrwege nicht eine Spur vermisse. Denn im Gegensatz zu damals kann ich es mir heute nicht mehr vorstellen kein Rollenspiel zu spielen.


Ihr könnte darüber im RSP-Blogs Forum diskutieren. Teilt ihr diese Eindrücke aus der "dunklen Zeit" des Rollenspiels?



Disclaimer:
Ich möchte hiermit nicht all die Erzählrollenspiele disqualifizieren, die es erfolgreich schaffen, dramatische Geschichten "wie im Film und Buch" umzusetzen, indem sie sich eben genau der Methoden bedienen, die in diesen Medien eingesetzt werden. Es ist also durchaus möglich diese Ansprüche fair im Rollenspiel zu befriedigen. Aber für die obige Betrachtung möchte ich sie ausklammern, da sie nicht das repräsentieren, was ich mir unter einem Rollenspiel vorstelle. Die Kritik bezieht sich ausschliesslich darauf, den Film und Buch - Anspruch mit Rollenspielen umzusetzen, die nicht dafür ausgelegt sind.