Montag, 3. November 2014

[Gastbeitrag] Dramaturgie im Rollenspiel

Ich freue mich, diesen Monat mal wieder der Bitte nachzukommen, Platz für einen Gastbeitrag machen zu dürfen. Der Artikel passt meiner Meinung nach gut in die ewig währende Diskussion über improvisiertes und plotorientiertes Spielleiten, ausnahmsweise von jemandem, der eine fachmännische Meinung dazu beitragen kann. Arno hat Film an der ifs - internationalen filmschule - köln studiert. Auf www.filmschreiben.de bloggt er seit Kurzem über Dramaturgie und Erzählung.

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Als rollenspielender Filmstudent oder filmstudierender Rollenspieler konnte ich kaum anders, als Film und Rollenspiel aufeinander zu beziehen, über Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Qualitäten beider Erzählformen nachzudenken. Was mir auf beiden Seiten begegnete, war die Furcht vor Dramaturgie - als Struktur, die Einengung und Unfreiheit bedeutet. Auf beiden Seiten ist diese Befürchtung unbegründet, eigentlich. Auf beiden Seiten liegen die Probleme in der Anwendung, nicht in der Idee. Dafür bin ich hier.
Dramaturgie bedeutet nicht nur nicht Unfreiheit, sie ist nicht einmal eine Struktur. Eine Handlung hat Struktur. Dramaturgie ist das, was der Handlung Bedeutung und ihrer Struktur Sinn gibt. Das Ziel einer Handlung gibt ihr Bedeutung, ist Dramaturgie. Die Motivation hinter einer Handlung gibt ihr Bedeutung, ist Dramaturgie. Die Anstrengung, das Überwinden des Antagonismus gibt ihr Bedeutung, ist Dramaturgie. Der Misserfolg und seine Konsequenzen, der Erfolg und seine Belohnung geben der Handlung Bedeutung, sind Dramaturgie.
Das betrifft den großen Handlungsbogen und kleine Handlungsschritte - und jede noch so unbedeutende Probe im Rollenspiel: Der Spieler äußert ein Ziel, aus der Motivation seines Charakters heraus, das Ausmaß der Anstrengung wird in numerischen Werten festgelegt, der Spieler schafft die Probe, der Charakter wird belohnt, oder er scheitert, dann wird der Charakter bestraft. Desto ambitionierter das Ziel, größer die Motivation, höher die zu überwindende Hürde, reicher die Belohnung, furchtbarer der mögliche Verlust, desto dramatischer die Handlung. Einsatz ist Kern von Spiel und Dramaturgie. Wie viel haben Filmhelden schon aufs Spiel gesetzt um mehr zu erreichen? 
Die Missachtung von Spielerentscheidungen ist Missachtung von Dramaturgie. 
Frei entschiedene Handlungen freier Rollenspieler haben Struktur und Dramaturgie. Ein dramaturgisch denkender Spielleiter gibt diesen Entscheidungen Gewicht in der Erzählung: Die Missachtung von Spielerentscheidungen ist Missachtung von Dramaturgie. Doch wie kann es dann sein, dass Rollenspieler Dramaturgie als Bedrohung ihrer Freiheit missverstehen? Weil es passiert, das Spielleiter Spielerentscheidungen aushöhlen, sie bedeutungslos machen, im Namen einer Dramaturgie. Doch welche soll das sein? Oder besser: Wessen?
Während der Spieler seine Ziele selbst setzt, sind Anstrengungen, Konsequenzen, ja selbst Motivation Aufgabe des Spielleiters. Und alle drei Aufgaben lassen sich zu einer zusammenfassen: Aufgabe des Spielleiters ist der Antagonist. Die Bedrohung durch den Antagonisten bestimmt die Motivation der Spielercharaktere, seine Stärke bestimmt ihre Anstrengungen, sein Ziel die Konsequenzen aus Erfolg oder Misserfolg der Spielercharaktere.
Sein Ziel? Auch die Handlungen des Antagonisten haben natürlich Ziel, Motivation, Anstrengung und Konsequenzen. Auch seine Handlungen haben eine Dramaturgie. Und diese Dramaturgie, nur seine Dramaturgie sollte Gegenstand der Vorbereitungen des Spielleiters sein. Die Vorbereitung einer Dramaturgie des Antagonisten dramatisiert die Entscheidungen der Spielercharaktere, ganz egal welche Entscheidungen sie als freie Rollenspieler schließlich treffen. Die Vorbereitung einer Dramaturgie der Spielercharaktere aber entmündigt sie, weil ihre Entscheidungen dann bestimmte geplante Voraussetzungen erfüllen müssen. 
Ein gut entwickelter Antagonist ist ausreichend für eine dramaturgisch starke Handlung. 
Der Antagonist ist treibende Kraft der Handlung, treibende Kraft des Rollenspiels. Die treibende Kraft einer Handlung hat einen Namen: Protagonist. Im Rollenspiel ist der Antagonist der Protagonist. Und damit ist das Rollenspiel einem Filmgenre wahnsinnig ähnlich, das man vielleicht zunächst nicht damit assoziieren würde: Dem Thriller (um Verwirrungen zu vermeiden, werde ich dennoch weiterhin Hauptfiguren und Spielercharaktere als Protagonisten bezeichnen. Zumal sie sich diesen Titel noch verdienen werden). 
Wobei kann uns diese Erkenntnis helfen? Zunächst vielleicht dabei, zu vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass ein gut entwickelter Antagonist ausreichend ist für eine dramaturgisch starke Handlung. Jeder gute Thriller ist dafür Beweis genug. Vielleicht ist es oft Unsicherheit und fehlendes Vertrauen in den selbst entwickelten Antagonisten, der Spielleiter dazu bringt über die Handlungen der Spielercharaktere entscheiden zu wollen. Damit das Abenteuer spannend und reizvoll bleibt, was dann aber Spannung und Reiz verdirbt.
Dann kann der Thriller uns als Referenz helfen. Der Antagonist hat einen Plan, der den Protagonisten, also die Spielercharaktere, bedroht. Diese Bedrohung muss nicht gleich eine persönlich Intrige sein, zu Beginn bedroht sie vielleicht nur Werte der Spielercharaktere oder eine Institution, mit der sie sich assoziieren. Die Bedrohung ist jedoch immer groß genug, dass sie motiviert sind zu handeln. Und spätestens ihr Widerstand macht die Bedrohung dann persönlich und lebensgefährlich. 
Die Aufgabe des Spielleiters ist nicht, die Entscheidungen der Spieler zu lenken. 
Wenn der Protagonist nicht eingreift oder scheitert, wird der Plan des Antagonisten Schritt für Schritt ausgeführt, die Bedrohung steigt mit jedem Schritt. Und entsprechend sollte der Spielleiter reagieren, wenn die Entscheidungen der Spieler den Antagonisten nicht aufhalten. Seine Aufgabe ist dann nicht, die Entscheidungen der Spieler zu lenken, sondern den Plan des Antagonisten laufen zu lassen. Was bei richtiger Vorbereitung dann die Bedrohung für die Spielercharaktere steigert und sie unter Druck setzt: Sie weiter motiviert.
Die Bedrohung steigt also, bis der Protagonist sich Informationen über den Antagonist und dessen Plan erarbeitet hat. Diese Erkenntnis ermächtigt dann den Protagonisten im Thriller oder die Spielercharaktere im Rollenspiel dazu, den Spieß umzudrehen und gegen den Antagonisten vorzugehen. Diese Erkenntnis erst macht ihn zum/sie zu Protagonisten.
Hier wirkt die Dramaturgie auch auf der Spieler-Ebene. Die Erkenntnis mag für die Spielercharaktere die Belohnung für ihre Anstrengungen und ihren Erfolg sein. Aber auch die Spieler haben sich angestrengt, mit Erfolg, und ihre Belohnung ist die Ermächtigung zur Aktion (im Gegensatz zur bloßen Reaktion in der bisherigen Erzählung). Als Spieler liebe ich diesen Moment, weil ich endlich alles an Können und Raffinesse meines Charakters aufwenden und ausspielen kann, für den bestmöglichen Gegenangriff. Als Spielleiter liebe ich diesen Moment, weil mir die Spieler die Spielleitung aus der Hand nehmen, manchmal stundenlang, für den perfekten Plan. Dieser Ausdruck von / Ausbruch an Spielermotivation heißt doch, dass ich alles richtig gemacht habe. Als Filmemacher liebe ich diesen Moment, weil er Beweis für die kreative Stärke des Kollektivs ist.