Ich freue mich, diesen Monat mal wieder der Bitte nachzukommen, Platz für einen Gastbeitrag machen zu dürfen. Der Artikel passt meiner Meinung nach gut in die ewig währende Diskussion über improvisiertes und plotorientiertes Spielleiten, ausnahmsweise von jemandem, der eine fachmännische Meinung dazu beitragen kann. Arno hat Film an der ifs - internationalen
filmschule - köln studiert. Auf www.filmschreiben.de bloggt er seit Kurzem über
Dramaturgie und Erzählung.
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Als
rollenspielender Filmstudent oder filmstudierender Rollenspieler
konnte ich kaum anders, als Film und Rollenspiel aufeinander zu
beziehen, über Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Qualitäten beider
Erzählformen nachzudenken. Was mir auf beiden Seiten begegnete, war
die Furcht vor Dramaturgie - als Struktur, die Einengung und
Unfreiheit bedeutet. Auf beiden Seiten ist diese Befürchtung
unbegründet, eigentlich. Auf beiden Seiten liegen die Probleme in
der Anwendung, nicht in der Idee. Dafür bin ich hier.
Dramaturgie
bedeutet nicht nur nicht Unfreiheit, sie ist nicht einmal eine
Struktur. Eine Handlung hat Struktur. Dramaturgie ist das, was der
Handlung Bedeutung und ihrer Struktur Sinn gibt. Das Ziel einer
Handlung gibt ihr Bedeutung, ist Dramaturgie. Die Motivation hinter
einer Handlung gibt ihr Bedeutung, ist Dramaturgie. Die Anstrengung,
das Überwinden des Antagonismus gibt ihr Bedeutung, ist Dramaturgie.
Der Misserfolg und seine Konsequenzen, der Erfolg und seine Belohnung
geben der Handlung Bedeutung, sind Dramaturgie.
Das
betrifft den großen Handlungsbogen und kleine Handlungsschritte -
und jede noch so unbedeutende Probe im Rollenspiel: Der Spieler
äußert ein Ziel, aus der Motivation seines Charakters heraus, das
Ausmaß der Anstrengung wird in numerischen Werten festgelegt, der
Spieler schafft die Probe, der Charakter wird belohnt, oder er
scheitert, dann wird der Charakter bestraft. Desto ambitionierter das
Ziel, größer die Motivation, höher die zu überwindende Hürde,
reicher die Belohnung, furchtbarer der mögliche Verlust, desto
dramatischer die Handlung. Einsatz ist Kern von Spiel und
Dramaturgie. Wie viel haben Filmhelden schon aufs Spiel gesetzt
um mehr zu erreichen?
Die
Missachtung von Spielerentscheidungen ist Missachtung von
Dramaturgie.
Frei
entschiedene Handlungen freier Rollenspieler haben Struktur und
Dramaturgie. Ein dramaturgisch denkender Spielleiter gibt diesen
Entscheidungen Gewicht in der Erzählung: Die Missachtung von
Spielerentscheidungen ist Missachtung von Dramaturgie. Doch wie kann
es dann sein, dass Rollenspieler Dramaturgie als Bedrohung ihrer
Freiheit missverstehen? Weil es passiert, das Spielleiter
Spielerentscheidungen aushöhlen, sie bedeutungslos machen, im Namen
einer Dramaturgie. Doch welche soll das sein? Oder besser: Wessen?
Während
der Spieler seine Ziele selbst setzt, sind Anstrengungen,
Konsequenzen, ja selbst Motivation Aufgabe des Spielleiters. Und alle
drei Aufgaben lassen sich zu einer zusammenfassen: Aufgabe des
Spielleiters ist der Antagonist. Die Bedrohung durch den Antagonisten
bestimmt die Motivation der Spielercharaktere, seine Stärke bestimmt
ihre Anstrengungen, sein Ziel die Konsequenzen aus Erfolg oder
Misserfolg der Spielercharaktere.
Sein
Ziel? Auch die Handlungen des Antagonisten haben natürlich Ziel,
Motivation, Anstrengung und Konsequenzen. Auch seine Handlungen haben
eine Dramaturgie. Und diese Dramaturgie, nur seine Dramaturgie
sollte Gegenstand der Vorbereitungen des Spielleiters sein. Die
Vorbereitung einer Dramaturgie des Antagonisten dramatisiert die
Entscheidungen der Spielercharaktere, ganz egal welche Entscheidungen
sie als freie Rollenspieler schließlich treffen. Die Vorbereitung
einer Dramaturgie der Spielercharaktere aber entmündigt sie, weil
ihre Entscheidungen dann bestimmte geplante Voraussetzungen erfüllen
müssen.
Ein
gut entwickelter Antagonist ist ausreichend für eine dramaturgisch
starke Handlung.
Der
Antagonist ist treibende Kraft der Handlung, treibende Kraft des
Rollenspiels. Die treibende Kraft einer Handlung hat einen Namen:
Protagonist. Im Rollenspiel ist der Antagonist der Protagonist. Und
damit ist das Rollenspiel einem Filmgenre
wahnsinnig ähnlich, das man vielleicht zunächst nicht damit
assoziieren würde: Dem Thriller (um
Verwirrungen zu vermeiden, werde ich dennoch weiterhin Hauptfiguren
und Spielercharaktere als Protagonisten bezeichnen. Zumal sie sich
diesen Titel noch verdienen werden).
Wobei
kann uns diese Erkenntnis helfen? Zunächst vielleicht dabei, zu
vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass ein gut entwickelter Antagonist
ausreichend ist für eine dramaturgisch starke Handlung. Jeder gute
Thriller ist dafür Beweis genug. Vielleicht ist es oft Unsicherheit
und fehlendes Vertrauen in den selbst entwickelten Antagonisten, der
Spielleiter dazu bringt über die Handlungen der Spielercharaktere
entscheiden zu wollen. Damit das Abenteuer spannend und reizvoll
bleibt, was dann aber Spannung und Reiz verdirbt.
Dann
kann der Thriller uns als Referenz helfen. Der Antagonist hat einen
Plan, der den Protagonisten, also die Spielercharaktere, bedroht.
Diese Bedrohung muss nicht gleich eine persönlich Intrige sein, zu
Beginn bedroht sie vielleicht nur Werte der Spielercharaktere oder
eine Institution, mit der sie sich assoziieren. Die Bedrohung ist
jedoch immer groß genug, dass sie motiviert sind zu handeln. Und
spätestens ihr Widerstand macht die Bedrohung dann persönlich und
lebensgefährlich.
Die
Aufgabe des Spielleiters ist nicht, die Entscheidungen der Spieler zu
lenken.
Wenn
der Protagonist nicht eingreift oder scheitert, wird der Plan des
Antagonisten Schritt für Schritt ausgeführt, die Bedrohung steigt
mit jedem Schritt. Und entsprechend sollte der Spielleiter reagieren,
wenn die Entscheidungen der Spieler den Antagonisten nicht aufhalten.
Seine Aufgabe ist dann nicht, die Entscheidungen der Spieler zu
lenken, sondern den Plan des Antagonisten laufen zu lassen. Was bei
richtiger Vorbereitung dann die Bedrohung für die Spielercharaktere
steigert und sie unter Druck setzt: Sie weiter motiviert.
Die
Bedrohung steigt also, bis der Protagonist sich Informationen über
den Antagonist und dessen Plan erarbeitet hat. Diese Erkenntnis
ermächtigt dann den Protagonisten im Thriller oder die
Spielercharaktere im Rollenspiel dazu, den Spieß umzudrehen und
gegen den Antagonisten vorzugehen. Diese Erkenntnis erst macht ihn
zum/sie zu Protagonisten.
Hier
wirkt die Dramaturgie auch auf der Spieler-Ebene. Die Erkenntnis mag
für die Spielercharaktere die Belohnung für ihre Anstrengungen und
ihren Erfolg sein. Aber auch die Spieler haben sich angestrengt, mit
Erfolg, und ihre Belohnung ist die Ermächtigung zur Aktion (im
Gegensatz zur bloßen Reaktion in der bisherigen Erzählung). Als
Spieler liebe ich diesen Moment, weil ich endlich alles an Können
und Raffinesse meines Charakters aufwenden und ausspielen kann, für
den bestmöglichen Gegenangriff. Als Spielleiter liebe ich diesen
Moment, weil mir die Spieler die Spielleitung aus der Hand nehmen,
manchmal stundenlang, für den perfekten Plan. Dieser Ausdruck von / Ausbruch an Spielermotivation heißt doch, dass ich alles richtig
gemacht habe. Als Filmemacher liebe ich diesen Moment, weil er Beweis
für die kreative Stärke des Kollektivs ist.