Auch, wenn es nicht immer zum Ziel führt, finde ich es gut und wichtig, auch die Grundlagen des Rollenspiels zu hinterfragen. Vor einigen Wochen schrieb ich etwas über mein Selbstverständnis als Spielleiter. Ich beschrieb einen Spielstil, der auf Gleichberechtigung, Zusammenarbeit, gegenseitige Inspiration und Respekt aufbaut. Ein Spielstil, bei dem der Spielleiter (SL) ebenfalls wichtig, sogar notwendig ist, bei dem er allerdings nur ein Mitspieler wie jeder andere in der Spielrunde ist.
Wem dies nun nicht übermäßig revolutionär erschien - und das ist genau der Punkt - spielt vermutlich bereits in einer sehr mündigen Spielrunde und das freut mich. Das dies dennoch nicht selbstverständlich ist, hatte ich ebenfalls angemerkt. Denn manchmal rufen selbst vermeintliche Banalitäten wie diese weiße Ritter auf den Plan, die ihren Zweck darin sehen, im Namen anderer den Status Quo zu verteidigen. In eben jenem Beitrag richtete ich die Aufmerksamkeit auch auf diese Apologeten des klassischen Rollenspiels, durch deren Spielstil eine Unterscheidung zu einem gleichberechtigten eben erst notwendig wird. Klassischer Status Quo bedeutet in diesem Falle, dass es innerhalb der Spielrunde den SL als omnipotenten Allesentscheider gibt, der seinen Mitspielern die Art und Weise vorschreibt, wie man in "seiner" Spielrunde zu spielen hat. Um zu beweisen, dass es dieses Selbstverständnis gibt, hatte ich auch einen Beweis verlinkt. Das diese Art RPG zu betreiben nicht funktionieren kann, weil es beim Spielen eines Spieles um eine freiwillige Aktivität geht, kann man sich leicht selbst erschließen. Das wäre weiterhin nicht fatal, denn so würde sich der Ansatz des Allmachts-SL mit der Zeit von ganz alleine aus dem kollektiven Bewußtsein des Rollenspieles verabschieden und das Hobby würde sich weiterentwickeln.
Nun besteht der Ansatz aber seit vielen Jahrzehnten als verbreitetste Art ein Rollenspiel zu gestalten (nicht zu spielen!) und das ist das eigentlich Interessante. Denn das Fatale an der Situation ist, dass klassische Rollenspielentwickler selbst unter ihren restriktiven Prämissen in leider nicht selbstironischer Weise die Spielqualitäten eines gleichberechtigten Spiels beanspruchen. Ziel ist es dabei, den klassischen SL-Ansatz aufrechtzuerhalten, dafür zu sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist. Der klassische Allmachts-SL ist tief in den am meisten gespielten Rollenspielen verankert, sprachlich, wie spielmechanisch. Eine Weiterentwicklung des Rollenspiels als soziales Ereignis ist unter diesen Bedingungen nur schwierig möglich. Glücklicherweise sind solche Apologeten sehr leicht auszumachen. Dabei fallen Beißreflexe wie die folgenden, die der ein oder andere sicher schonmal gehört hat:
- Ich spiele sowieso nur mit guten Freunden
- Ich spiele nicht mit Idioten (Regel 0)
- Ich vertraue meinem Spielleiter
- Solange der SL keinen Mist macht, akzeptiere ich die Entscheidung
- Wir ändern die Spielregeln einfach (goldene Regel)
und mein Lieblings"argument"
- Die Hauptsache ist, wir haben Spaß!
Jedes einzelne dieser Argumente setzt eigentlich die Aufhebung des Spielleiters als Alphatier der Spielrunde voraus. Sie beruhen also auf der Aufhebung genau des Ansatzes, den sie rechtfertigen sollen. Keines dieser Argumente ist zumeist innerhalb der Mechanismen eines RPG-Systems verankert, so dass nichts geändert werden muss, denn darum geht es. Viele Rollenspieler werden sich bei diesen Argumenten in ihren Rollenspielerfahrungen auch wiederfinden. Kein Machtwort eines Spielleiters kann Missverständnisse und Diskussionen in der Spielrunde verhindern. Kein Spielleiter ist jemals besser geworden, wenn er bei seinen Entscheidungen auf die Beiträge und Hilfe seiner Mitspieler verzichtet. Kein Belohnungspunktmechanismus hat irgendwo, irgendeinem Spieler mehr Rechte gegeben, als er sowieso schon hat.
In diese Zusammenhang muss auch das durch zahlreiche, halbherzige Regelexperimente im Bereich der erzähllastigen Rollenspiele entwickelte "player empowerment" - also die Ermächtigung der Spieler am Spielgeschehen teilzunehmen - als nichts anderes als die Umarmung des Allmachts-SLs betrachtet und schlussendlich als Nebelkerze bezeichnet werden. Denn die Aufhebung der Spielrundenhierarchie war schon lange im Kern des Rollenspielens angekommen und völlig zu Recht, denn der Status des Allmachts-SL setzt ein Vertrauen und eine Kompetenz voraus, die sicher nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt und vorhanden sind, dafür aber auch Würfeldrehern und Selbstbespaßern Tür und Tor öffnet.
An der offenen Akzeptanz dieser nicht vorhandenen Hierarchie fehlt es allerdings oft. Aus diesem Grunde werden die Rechtfertigungen des klassischen SL-Ansatzes auch immer bemühter und gezwungener. Um noch einmal zu zeigen, dass ich mir das alles nicht ausdenke und es keine Verschwörungstheorie ist, hier ein weiteres, aktuelles Beispiel, das uns Monte Cook mit seinem Cypher System bescheren wird:
Zunächst stellt er diese, für uns Rollenspieler altbekannte Tatsache fest:
Monte Cook: The number one strength of a tabletop RPG is the fact that there’s a living, breathing person sitting at the table next to you that can arbitrate the rules [...] Tabletop rules systems that try to cover every contingency can end up putting similar restrictions on players.
Die Person am Spieltisch, die eine Vielzahl an Spielsituation intuitiv bewerten und verregeln kann, ist die größte Stärke des Rollenspiels. Festgelegte Spielregeln schränken eine Spielrunde in der Darstellung einer komplexen, fiktiven Spielwelt ein. Eine Erkenntnis, so simpel, wie wahr. Was könnte eine Spielrunde alles erreichen, wenn sie mit diesem Wissen an ihrer Spielwelt bastelt? Ein vielversprechender Designansatz.
In der Folge beschränkt er dieses große Potenzial unmittelbar alleinig auf den Spielleiter. Warum tut er sowas Verrücktes? Wegen des rückwärts gewandten Denkens, dem der klassische SL-Ansatz zu Eigen ist: weil man das schon immer so gemacht hat.
Monte Cook: A great game can be designed to embrace the GM and his or her logic and reasoning—that’s the way virtually all tabletop games were designed for decades.
Zunächst bestätigt er, dass buchstäblich jedes "tabletop game" über Jahrzehnte hinweg diesen Designansatz des Allmachts-SL nutzt. Von diesem Grundprinzip ausgehend kommt Monte Cook dann zu folgendem, dramatischen Drahtseilakt eines Gedankenganges, nur um den Status Quo des klassischen SLs aufrechtzuerhalten:
Monte Cook: If we put more authority into the hands of the GM, aren’t we taking it away from the players? I don’t believe so. In fact, I think the opposite is true. By giving GMs the ability to interpret the actions in the game world using logic and reason, it gives players the authority to come up with creative responses to game situations rather than simply relying on what the game’s designer thought they should (or were most likely to) do.
In allem Ernst begründet er die Ermächtigung des SLs (über dessen Logik) damit, dass es die Spieler ermächtige. Und zwar, weil sie nun ihre Kreativität nutzen könnten. Als Strohmann dient hier das komplexe, fest verregelte Spielsystem, durch welches ein Designer der Spielrunde die Art und Weise zu spielen festschreiben würde.
Das die flexible Anwendung von Regeln bei einer theoretisch beliebig komplexen, fiktiven Spielwelt jedem fest verregelten Spielsystem überlegen ist, ist zwar folgerichtig. Daraus kann man aber nicht ableiten, dass es infolge eine einzelne Person geben muss, die alles entscheided. Genausowenig kann man daraus ableiten, dass, wenn es nur eine solche Person gibt, andere dadurch ermächtigt werden würden.
Selbstverständlich haben die Mitspieler nur dann den größten Einfluss zur Mitgestaltung, wenn sie sämtliche Aspekte mitentscheiden dürfen, nicht nur die "kreativen", sondern auch die "logischen" Aspekte. Das ist die einzige Antwort auf ein fest verregeltes Spielsystem. Dieser Gedanke muss Monte Cook natürlich auch gekommen sein, denn er schreibt diese unscheinbare Bemerkung:
The Cypher System is designed to put the power in the hands of GM and the players (probably in that order). (Die Hervorhebung stammt von mir)
Er ist sich selbst nicht sicher, ob diese Hierarchie der richtige Ansatz ist, ist sich aber nicht zu schade, ihn mit jedem Winkelzug zu rechtfertigen. Einfach, weil "that's the way virtually all tabletop games were designed for decades".
Bitte nicht falsch verstehen: Aus Mangel an Alternativen halte ich einen Spielleiter auch für unverzichtbar. Dabei ist die Aufgabenverteilung aber das Relevante und nicht die Authoritäten. Alleine diese beiden Perspektiven wirken sich jedoch schon daramatisch auf die Art und Weise aus, wie man ein Rollenspiel verfasst, was man darin kommuniziert und wie man schlussendlich spielleitet.
Unter uns: Warum lasst ihr euch von euren Spielleitern sagen, wie ihr zu spielen habt? Tut ihr nicht, richtig? Ihr seid ja alle Freunde. Und ihr ändert die Regeln. Schon klar. In Diskussionen zeigt sich, dass ohnehin niemand wirklich ein Interesse daran hat, diese in allen möglichen Regelsystemen verbaute Hierarchie, im Duktus wie spielmechanisch, wirklich einzuhalten. Wenn euch das nächste Mal also jemand oder ein Rollenspielbuch beschreibt, dass es unbedingt notwendig ist, dass eine Person in einer Spielrunde alles alleine entscheiden muss, weil dadurch das Spiel besser werden würde und ihr dadurch mehr Rechte und Freiheiten hättet (die man euch als Mitspieler sowieso nicht nehmen kann!), das alles spielmechanisch untermauert und euch gleichzeitig den Hinweis gibt, dass man diese Tatsache auch einfach jederzeit ignorieren könnte, sobald eben jene Spielmechanismen zu Störungen führen, dann hinterfragt doch einmal die Logik und die generelle Fähigkeit des SLs/Designers dahinter. Denn die Gefahr ist groß, dass er euch nur den alten Spielleiter-Whine in neuen Schläuchen erneut andrehen will.
Diskutiert darüber im RSP-Blogs Forum