Der folgende Text ist das Resultat der Überlegungen zu meinem bevorzugten Spielstil, den ich unabhängig von den ganzen RPG Experimenten der letzten Jahre immer verfolgt habe und mit dem ich alle Stadien, von Neugier bis Abneigung und schlussendlich Wertschätzung durchgemacht habe. Und zwar seit Tag1. Die Punkte darin besitzen keine bestimmte Reihenfolge, ich habe lediglich versucht sie einigermaßen logisch zu sortieren, wobei es mitunter sehr schwer ist sie voneinander zu trennen.
Mir ist beim Zusammenfassen erst aufgefallen wieviele Einschränkungen doch daran geknüpft sind und was das Raffinieren einer natürlich gewachsenen Spielart über Jahre hinweg doch alles an Einzelaspekten voraussetzt.
Mal Hand aufs Herz: Erzähllastige Indierollenspiele hin, old schoolige minimalistische Leichtgewichte her, wir lieben sie doch, unsere "Rules-Heavy Systems". Alles andere ist doch nur "light", oder etwa nicht? Dutzende Attribute, abgeleitete Werte, tonnenweise Fertigkeiten. Fein ziselierte Charakterkonstruktionen. Endlose Tabellen von Ausrüstung und jede zweite Aktion hat ihre detaillierten Regeln. Vielen Spielern hilft dies beim Eintauchen in die Spielwelt. Das sind Systeme wie Midgard, DSA oder auch Harnmaster und GURPS. Systeme, die schon seit Jahrzehnten ihren festen Platz im Hobby haben. Eben "klassische" Rollenspiele.
Aber "klassisch", was heisst das überhaupt für mich? Wenn andere Rollenspieler klassisch sagen, dann denken sie vielleicht an AD&D, an Traveller oder gar Tunnels & Trolls. Aber ich fing an im deutschen Dunstkreis der Rollenspiele zu spielen und klassisch bedeutet für mich etwas ganz anderes und ich möchte versuchen, das mit wenig theoretischen Begriffen mit konkretem Inhalt zu füllen. Ich benutze "klassisch" auch nicht als höheres Qualitätsmerkmal, sondern weil ich es so "gelernt" habe. Klassisch ist für mich eine eingeschränkte Kombination von Regel- und Spielwelt- und Rundenstilelementen, auf die ich mich in Zukunft beziehen möchte, wenn von klassisch die Rede ist:
Klassisch, das ist der einfache Grundmechanismus, auf dem alles aufbaut. Ein oder mehrere Würfel mit addierten Zuschlägen und Abzügen gegen Mindestwerte oder Maximalwerte. Es gibt absolute Wertespannen, mit denen der Herausforderungsgrad verglichen werden kannn. Keine Tarokarten, Fingerfarben oder regelloses Spiel.
Klassisch, das ist die Aufteilung eines Charakters in Attribute und Fertigkeiten. Attribute, die das angeborene, meist nur schwer verbesserbare Potential eines Charakters darstellen. Fertigkeiten, auf der anderen Seite, sind erlernte Muster, die schnell ausbaubar und flexibel sind. Die Attribute haben in der Spielmechanik einen übergeordneten Einfluss auf die Fertigkeiten.
Klassisch, das ist die Vergabe von Erfahrungspunkten, mit denen man die Charaktere ausbauen kann, sei es durch Stufen mit vordefinierten Optionen oder als Zahlungsmittel für selbst wählbare Charaktereigenschaften. Der Spielcharakter kann sich im Vergleich zum Generierungszustand durch das Ansammeln von Erfahrung signifikant und spielmechanisch spürbar gegenüber den Herausforderungen verbessern. Es gibt keine fertig erstellten, ausgebauten Charaktere, jeder Fortschritt wird erspielt.
Klassisch, das ist die Angriffsprobe, die Ausweichenprobe, die Klettern- oder Überredenprobe. Einzelne, zeitlich eng begrenzte Charakterhandlungen werden seperat mit Hilfe von Würfelwürfen getestet. Wenn nötig auch mehrfach hintereinander. Proben haben Auswirkungen auf diejenigen veränderlichen Spielwerte des Charakters, die inhaltlich direkt mit der Ursache des Ereignisses zusammenhängen. Ein Treffer mit einer Waffen erzeugt z.b. Verletzungen und kostet keine abstrakten Trefferpunkte wie "Stellung im Kampf", "dramatisches Spotlight", "der Wunsch nach Rache" oder ähnliches. Die Regeln stellen also kleinschrittig und direkt möglichst glaubwürdige Handlungsabläufe in der Spielwelt dar. Der Sinn dahinter ist es, die Interpretation der Regelauswirkungen und damit die Mißverständnisse im Spiel soweit wie möglich zu verhindern. Dort ist kein Platz für abstrakte Handhabungen von zeitlich, räumlichen Zusammenhängen, wie z.B. die Limitierung von an sich beliebig verfügbaren Handlungen (vergleiche D&D4 Powers oder Fate Aspekte).
Klassisch, das ist der Schwerpunkt auf die spielmechanische Verregelung der Spielweltereignisse. Zum Einen dient das der Gleichbehandlung der Mitspieler aus darstellerischer Perspektive - Das sogenannte Ausspielen stellt somit kein Qualitätsmerkmal dar , das über Erfolg und Mißerfolg entscheidet, sondern ist ein übergeordnetes, zwangloses Spielziel - zum Anderen stellt das ungewisse Spannungsmoment beim Würfeln und die zahlreichen, taktisch beeinflussbaren, regeltechnischen Parameter zusätzliche Spassquellen dar. Es gibt dabei allerdings keine Gleichbehandlung der Charakterhandlungen innerhalb der Regeln. Die Regeln orientieren sich an der direkten Machbarkeit der Charakterhandlungen am Tisch, nicht an der Vereinheitlichung der Spielabläufe. So gibt es z.B. keine sozialen Kampfsysteme parallel zu den Kampfregeln oder regelmechanische Details für Dinge, die man ohne diese genauso gut umsetzen kann (z.b. durch das Ausspielen). Der Fokus auf die detaillierte, mechanische Darstellung von Kämpfen spiegelt die Bedeutung eben jener im Spiel wider. Die Regeln bemühen sich jedoch Lösungen für möglichst viele Eventualitäten bereitzustellen, unabhängig vom tatsächlichen Spielstil der Runde. Das hat den einfachen Grund, daß es keine zwei Spielrunden auf der Erde gibt, die sich gleich verhalten und es sinnvoller ist, ein Angebot an Optionen zur Verfügung zu stellen, als für eines dieser Runden ein Regelwerk zu schreiben. Die Spielrunde muss sich dieser Verantwortung bewusst sein. Im Vordergrund steht das optimale Verhältnis der Spielbarkeit gegenüber der möglichst genauen, differenzierten Implementierung der tatsächlichen Spielereignisse durch Regeln, z.B. durch die Trennung vieler Fertigkeiten, vieler Aktionsmanöver, dem wechselseitigen Einfluss von Spielwerten oder vieler anderer Möglichkeiten. Die Regeln sind als zuverlässige Referenz für alle Mitspieler bindend.
Klassisch, das ist ausrüstungslastig. Das sind lange Tabellen mit Gegenständen, magisch, wie unmagisch, die sich durch viele Werte definieren und charakteristisch voneinander unterscheiden. Die Ausrüstung ist ein weiteres Puzzleteil zur Individualisierung des Charakters, das sich auch spielerisch bemerkbar macht. Das Vorkommen der Ausrüstung in der Spielwelt spiegelt sich in den Werten wider, die sie beschreiben, d.h. für die Existenz oder die Häufigkeit jedes Gegenstandes gibt es spielweltinterne Gründe. Dadurch wird unter Anderem Ausgeglichenheit der Spielwerte erreicht. Es gibt kein "über den Kamm scheren" von ganzen Ausrüstungsklassen oder Marginalisierung von Entscheidungen durch "best-choices", die Alternativen obsolet machen.
Klassisch, das ist die Aufgabentrennung von Spielleiter und Spieler. Der Spielleiter entscheided über die Anwendung der Regeln (nicht über deren Auslegung!). Er stellt Spielleitercharaktere dar und setzt Ereignisse in Gang, auf die die Spieler aussschliesslich mit ihren Charakteren reagieren können. Die Ereignisse können je nach Spielstil festgelegten Reihenfolgen und Abläufen entsprechen oder gänzlich unstrukturierte und ergebnisoffene Konsequenzen sein. Spieler spielen keine Spielleitercharakter oder Verbündete. Sie entscheiden auch nicht über den Handlungsverlauf oder in welchen Situationen nun welche Konsequenz einen besonders dramatischen Effekt hätte. Spieler schaffen während des Spiels keine szenischen Tatsachen (können aber durchaus Beiträge zur Spielwelt leisten).
Klassisch, das ist die Beschränkung der Wahrnehmung der Spielwelt auf den eigenen Charakter. Man sieht, hört und weiß nur die Dinge, die der Charakter in der Spielwelt auch erlebt. Das Rundenwissen des Spielers bringt dieser nicht ins Spiel ein. Würfelproben und Werte bestimmen die Ereignisse stärker als die Persönlichkeit des Spielers, der versucht sich an seine Spielfigur anzugleichen, anstatt umgekehrt. Keine 11 Fuß Stangentricks gegen Falltüren für den dummen Orkcharakter, wenn die Würfel etwas anderes sagen. Die spielmechanische Verregelung hat hierbei Vorrang vor der Darstellung des Charakters. Umgekehrt gilt für den Spieler aber auch "Was der Spielercharakter kann, das kann er". In einem klassischen Rollenspiel gibt es keine Vorgaben, die mögliche Handlungen verbieten, z.b. der Fall, in dem ein Spielercharakter keine magischen Gegenstände zum Handelspreis verkaufen kann, weil der Spielstil des Systems dies nicht vorsieht ohne aber Spielweltgründe dafür zu liefern. Oder aber, daß ein Spielercharakter eine Handlung nicht durchführen darf, weil diese nicht dramatisch genug erscheint. Dies alles wirkt sich positiv auf die Identifikation mit dem eigenen Spielercharakter aus.
Klassisch, das ist das Abenteuer im Kleinen. Der Fokus bleibt stets auf der kleinen Gemeinschaft der Spielercharaktere. Da der Einflussbereich der Spieler aus Gründen des "Hineinversetzens in die Spielwelt" auf ihre Charaktere beschränkt ist, sie also auch keine Entscheidungen für Verbündete fällen (z.b. in kämpferischen Auseinandersetzungen), stehen dahinter sowohl praktische Erwägungen für den Spielleiter, als auch die Intensivierung des Spielererlebnisses. Armeen, Ökonomien oder Grenzen werden allenfalls im Endspiel bewegt. Schlachten und hohe Persönlichkeiten treten als Abschluss großer Ereignisse auf den Plan. Die Probleme drehen sich eher um Dinge, die die Spielfiguren akut betreffen oder auf Personen, die persönlichen Kontakt zu den Charakteren haben. Die Charaktere sind Helden des Alltags in ihrer phantastischen Spielwelt, die sich erst nach langer Reise einen unverzichtbaren Platz in ihr erkämpfen.
Klassisch, das ist "Spielen für den Moment". Es gibt keine übergeordnete Struktur, kein Ziel, auf das der Spielabend hinauslaufen muss. Keinen Plan, den man abarbeitet. Spielszenen besitzen keine Aufgaben oder müssen abgeschlossen werden. Die Bedeutung und der Zweck einer Spielszene ergibt sich organisch aus dem Spiel. Eine Unterhaltung in der Taverne muss sich z.b. weder in der Gesamtstruktur einer Geschichte wiederfinden, noch muss sie bestimmte theatralische Anforderungen erfüllen. Die gegenwärtige Spielstimmung bestimmt über die Bedeutung einer Spielszene für den Spielabend. Wenn die ganze Runde Spass daran hat mit ihren Charakteren den Kauf eines Maulesels auszuspielen, dann gibt es keinen Grund, dies für formale, funktionale Zwecke (wie der Dramatik) zu unterbrechen. Die Spielrunde stimmt die Spielszenen unwillkürlich auf die Vielfalt der Stimmungen des Spielabends ein und erzwingt keinen Jahrmarkt, in der alle Inhalte zu aufmerksamkeitserheischender, sich selbst überbietender Beschallung werden, die in gleichmäßigen Zeitabständen bestaunt werden wollen. Klassisches Rollenspiel ist Entspannung und nicht Sport.
Klassisch, das sind plausible, konsistente Spielwelten. Alle Ereignisse lassen sich auf nachvollziehbare Zusammenhänge zurückführen. Gibt es z.B. magische Gegenstände, so gibt es jemanden, der sie hergestellt hat, so hat dieser bestimmte Kosten, die er auf bestimmte Weise wieder hereinholt. Es gibt keine isolierten Spielweltelemente, sondern sie fügen sich logisch ins Ganze und Wechselwirken miteinander. Es liegt in der Verantwortung des Spielleiters diese Wechselwirkungen nachzuhalten. Die Spielwelten sind dabei meist ein Spiegelbild unserer Welt, der Schwerpunkt liegt auf Eingängigkeit und Vertrautheit, nicht auf Verfremdung und Kuriositäten. Auch dies erleichtert das Hineinversetzen in die Spielwelt.
Das sind die Dinge, die ich erwarte, wenn ich mich mit einer Spielrunde zu "klassischem Rollenspiel" zusammensetze. Es klingt sehr speziell, man könnte meinen, das sei doch nur eine persönliche Liste meiner Vorlieben und Worte wie "detailliert" sind häufig auch Auslegungssache. Jedoch habe ich mich überwiegend in klassischen Runden bewegt und auch im Internet über Jahre hinweg die Spielerschaft beobachtet und sehe da große, einheitliche Gemeinsamkeiten in denen man sich eventuell wiederfinden kann, aber nicht muss.
Ich zähle Midgard, Runequest, DSA oder Shadowrun unter Anderem zu diesen klassischen Spielen. Ich sage nicht, daß sie die Ansprüche deckungsgleich erfüllen oder fehlerfrei sind. Weiss Gott nicht, eher das Gegenteil! Und das ist auch genau mein Anliegen in dieser Sache. Meiner Erfahrung mit der Produktlandschaft der Rollenspiele nach hat diese spezielle Art von Rollenspiel stark gelitten. Fast alle Arten von Rollenspiel haben durch die Bewegungen der letzten 10-15 Jahre erheblich profitiert oder sind gar neu hinzugekommen. Sogar die Altvorderen "Old-School" Spieler haben mit Neuauflagen, bzw. Neugestaltungen ihrer Spielweisen durch die "Retroklonwelle" ihren Vorteil gezogen. Und Spieler, die filmartige, dramatisch getriebene Rollenspiele spielen, haben den bewussten Umgang mit Spielmechanismen ohnehin die letzten Jahre vorrangetrieben.
Doch was machen die klassischen Rollenspiele? Sie stagnieren. Kein Fortschritt, keine Selbstreflektion der Ansprüche, keine neuen Lösungen für alte Probleme. Stattdessen herrscht ein Schönreden der Mängel, Wiederkäuen der Inhalte und Ignorieren von Komplikationen. Ein Dahindümpeln im Sumpf des begrenzten Horizonts. Spielprobleme in Runden werden durch zum Teil Jahrzehnte alte Spielerfahrungen überdeckt und verschleppt und weichen aus der bewussten Wahrnehmung. Jede kleine Veränderung wird bekämpft und man klammert sich an Belanglosigkeiten, Systeme werden durch Kleinigkeiten definiert und erkannt. So sei z.b. DSA nicht mehr DSA, wenn es keine 3W20 Proben hätte. Als würde das Hobby davon abhängen. Es fehlt jegliche Distanz zum eigenen Spielstil.
Wo ist die "System Does Matter" Revolution der klassischen Rollenspiele? Wo die Retrowelle? Wo sind die belebenden, qualitativ hochwertigen Konkurrenzprodukte gegen DSA und co? Wo sind die sogenannten regellastigen Heartbreaker geblieben, die das Internet damals überschwemmten, die einzigen zaghaften Versuche von damals sich mit den eigenen klassischen Ansprüchen auseinander zu setzen?
Die klassischen Rollenspieler sind schon ein genügsames Völkchen. Sie sind aber auch die Musikantenstadlbesucher des Rollenspiels. Die einzigen Alternativen, die in Foren zu den alten, verbrauchten klassischen Dinosauriern vorgeschlagen werden sind eben dies: "nicht klassisch". Und das ist genau das, was ein klassischer Spieler nunmal nicht möchte.
Die Dinge, die ICH aus den nützlichen Theoriediskussionen über das Rollenspiel in den letzten Jahren mitgenommen habe, habe ich seit jeher auf das klassische Spiel angewendet und sie haben mir geholfen zu wissen, was ich daran schätze. Aber eben diese Thoeriediskussionen haben ja das klassische Spiel als unbewusst, undurchdacht und unstrukturiert gebrandmarkt und ins Abseits gedrängt. Man hört vom "Hartwurstspiel" oder vom "Bauergaming". Es wurde insbesondere viel Energie investiert um das Mem in die Welt zu setzen, daß eigentlich jeder Rollenspieler an einer Stilisierung der Spielregeln interessiert wäre, da diese dem Spiel "im Weg" stehen würden. Aber ich will darauf aufmerksam machen, daß sich hinter klassischem Rollenspiel Konzepte und Ansprüche verbergen, wie hinter jedem anderen Spielstil auch. Jetzt wäre es irgendwann auch schön zu erleben, daß diese Art von Rollenspiel auch eine Modernisierung erfährt.
Wie könnte ein solches, modernes klassisches Spiel aussehen? Gibt es das vielleicht schon (mir fällt mindestens eines ein, das es versucht hat)? Kommt euch diese Art von klassischem Spiel vertraut vor? Wo widersprecht ihr? Wenn ihr Ideen dazu habt, lasst es uns im Kommentarbereich oder im rsp-blogs-Forum wissen.