Freitag, 30. Juni 2017

RSP-Blogs Karneval [Jun. 2017] Ruinen als Spielelement

Der Blog Spiele im Kopf veranstaltet den diesmonatigen Karneval der Rollenspiel-Blogs zum Thema "Ruinen".

Hierzu kamen bereits unzählige, tolle Spiematerialien zusammen. Ich möchte aber grundlegender über Ruinen sprechen.
Es kann heute eine große Herausforderung sein, Ruinen als Szenario schmackhaft zu machen. Schnell wird ihnen die Aura monotonen Räume Durchsuchens und stupiden Monster Tothauens verliehen. Dabei bestätigen viele Spieler sich selbst lediglich ihre eigenen Vorurteile. Denn selbst in unserer Realität gehen Ruinen nicht nur buchstäblich in die Tiefe, sondern sind mit der Geschichte verwoben.

Vielleicht liegt die oberflächliche Handhabe daran, dass viele von uns Ruinen - also verlassene und verfallene Bauwerke - nur als Touristen oder von Urlaubsfotos oder aus Büchern kennenlernen. Anderen stehen sie lediglich ihrem schicken Fertigteile-Neubau im Weg. Und für D&D Rollenspieler sind sie meist der Abenteuerspielplatz schlechthin. Deswegen sind Ruinen ein integraler Bestandteil vieler klassischer Rollenspiele. Ich finde Ruinen inspirierend, so wie ein Bild oder ein Lied.
Ruinen können für verschiedene Personen also eine unterschiedliche Bedeutung haben und es lohnt sich bei der Integrierung von Ruinen ins Rollenspiel (RPG) einen kurzen Blick darauf zu werfen. Denn genaugenommen steht die Ruine nur als Schauplatz von Ereignissen im Fokus vieler RPGs. Die Ruine selbst wird meist vernachlässigt. Die RPG-Ereignisse, die Abenteuer, die Monsterbegegnungen, die Fallen, Schatzsuchen usw. die könnte man auch an jedem beliebigen anderen Ort unterbringen.
Etwas ist also am Wesen der Ruine an sich, das fasziniert. Richtigerweise wird zwar argumentiert, dass man in Ruinen nur eine eingeschränkte Bewegungs- und Interaktionsfreiheit mit der Spielwelt hat, die Spielrunde also einen leichteren Umgang mit dem Spiel hat. Jedoch gilt das genaugenommen speziell für den "Dungeon", also eine unterirdische Anlage, die auch nicht zwingend als Ruine vorliegen muss.

Begibt man sich in eine Ruine, dann bekommt man auch Hinweise auf die Nutzung und ihre einstigen Bewohner, den Handwerkern, Baumeistern, Dienern oder Angestellten, die an diesen Orten gewirkt haben. Je nach Anordnung der Anlage gibt die Ruine dabei nicht einfach nur Eindrücke, wo jemand irgendwo mal irgendetwas gemacht hat, sondern wo exakt jemand etwas ganz Bestimmtes an einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit getan hat. Jemand, der keine andere Möglichkeit mehr hat, von sich zu erzählen, dessen Erfahrung aber im Zustand der Ruine nachwirkt und in die wir uns hineinversetzen können.
Dieser vollumfängliche Sinneseindruck lässt sich auch anhand von (Kunst-)Handwerksstücken, z.b. ein Buch oder ein Gedicht, nur eingeschränkt nachempfinden, da ihnen ja die räumliche Zuordnung fehlt.
Die Ruine erzählt also etwas von den Menschen nachdem diese die Bühne verlassen haben, durch ihre einstige Errichtung und Nutzung, aber genauso über die Menschen, nämlich durch ihren Verfall und ihren Zustand. Und je älter die Ruine ist und desto weniger Primärquellen vorliegen, je mehr Zeit also überbrückt wird, desto unmittelbarer kann die Erfahrung und die Verbindung zu seinen Bewohnern oder Erbauern sein. Die Ruine bekommt einen Wert an sich, der mit dem Alter steigt.
Und dieser Wert und der vielfältige Umgang mit der Ruine an sich kann eine große Bereicherung (nicht nur) für ein Rollenspielsetting sein.

Dabei wird schnell vergessen, dass es Ruinen zu allen Zeiten der Geschichte gegeben hat. Der Bestandsschutz von Ruinen als Denkmal ist wohl eine relativ moderne Erscheinung, das heißt, der praktische Nutzen von Ruinen, z.B. als Steinbruch zur Materialgewinnung, war davor von größerer Bedeutung. So finden sich gerade viele Burganlagen als Trockenmauern am Feldrand oder in Behausungen der unmittelbaren Umgebung wieder. Vielfach wurden Anlagenreste in neue Bauten integriert und weiter genutzt.
Das heißt aber nicht, dass die Ruinen keinen Eindruck bei unseren Vorfahren hinterlassen haben und zwar Eindrücke und Erfahrungen, die uns heute verwehrt bleiben.
Als erstes Beispiel sei das frühmittelalterliche Rom genannt. Welche Vorstellungen müssen die gerade noch 20.000 Einwohner Roms gehabt haben, umgeben von Ruinen und pompöser Architektur, täglich erinnert zu werden, in einer einstigen Millionenstadt zu leben, deren höher entwickelter Stand bereits sieben Jahrhunderte zurückliegt und den sie erst im 20. Jahrhundert wieder erreichen sollte? Eine quasi postapokalyptische Atmosphäre, die überall im ehemaligen Weströmischen Reich zu spüren gewesen sein muss. Ein eindrücklicher Hinweis darauf ist vielleicht die berühmte, altenglische Elegie "Die Ruine" (http://faculty.arts.ubc.ca/sechard/oeruin.htm), in die der unbekannte Autor den Reichtum und Fortschritt einer seit langer Zeit in Ruinen liegenden Stadt bedauert.

Ein anderes, prominentes Beispiel im Umgang mit Ruinen findet sich zur Zeit der Aufklärung. Diese war Mitte des 18. Jahrhunderts im vollen Gange und es formierten sich Bewegungen, um der "Vernunft" etwas entgegenzusetzen oder sie zumindest kritisch zu reflektieren und man wandte sich wieder in emotionale, instinkthafte und irrationale Richtungen. Wieder dienten einigen Künstlern die Ruinen als eindrückliche Steilvorlage. Maler wie Piranesi oder Hubert Robert griffen Elemente der Antike und des Mittelalters auf, wie die Klassik und die Gotik, inszenierten und überhöhten sie auf phantastische Weise, oder entwickelten sie weiter.
Giovanni Battista Piranesi (Italy, Mogliano, 1720-1778),Part of a spacious and magnificent Harbor for the use of the ancient Romans opening onto a large market square. Source: Wikimedia Commons
Giovanni Battista Piranesi (Italy, Mogliano, 1720-1778),
Etching of the Pyramid of Cestius in Rome. Source: Wikimedia Commons
Schaut man sich ihre Bilder und die anderer Zeitgenossen an, dann findet man die bekannten, labyrinthartigen Strukturen, endlose Gewölbe und Geheimgänge und entdeckt darin unscheinbare, staunende Gestalten, die ziellos umherirren, unfähig, die höheren Mächte zu begreifen, die all dies errichteten und wieder zu Fall brachten.
Giovanni Battista Piranesi (Italy, Mogliano, 1720-1778), The Pier with Chains.
Source: Wikimedia Commons 
Dabei wird die Hybris jener vergangener Zivilisationen und ihrer Erbauer offengelegt, oder auch der Größenwahn zeitgenössischer Herrscher angedeutet.
Hubert Robert (1733-1808), Imaginary View of the Grand Gallery of the Louvre in Ruins
Source: Wikimedia Commons
All dies fand schließlich Eingang in das sich erst entwickelnde Horror- und Science-Fiction-Genre bis hin zum modernen Pulp und Fantasy, aus denen RPG bis heute zehrt. Was nichts anderes heißt, als dass Ruinen auch heute keine Selbstverständlichkeit sind, die einfach nur die Landschaft verzieren, sondern dass der ganze Umgang mit ihnen eine Grundlage und selbst eine Geschichte hat, die wir im RPG als Hobby weiterführen können, anstatt ihnen einfach einen Hack'n Slay Stempel aufzudrücken. Im Old School D&D Bereich werden diese Konzepte aufgegriffen und diskutiert, z. B. den Dungeon als mystische Unterwelt, natürlich um ihn zu rechtfertigen, aber vor allem um Interpretationsmöglichkeiten zu erschließen.


In diesem Sinne können Ruinen selbst auch eine Spielrunde bereichern. Dies muss nicht allzu verkopft sein und soll Spaß machen, denn die Spielercharaktere haben etwas zu entdecken und zusammenzufügen, was spieltaktische Vorteile bringen kann oder es werden Fragen und Details aufgeworfen, auf die es möglicherweise keine Antworten gibt oder deren Bedeutung verloren ist, was der Spielwelt Tiefe verleiht.
Ich versuche das in einer eigenen RPG-Kampagne auszunutzen und überhaupt jedem Dungeon und jeder Ruine eine Geschichte zu geben. Als stimmungsgebende Atmosphäre in dieser spätantiken Fantasywelt blicken die Bewohner auf eine kulturell höher entwickelte, verlorene Vergangenheit zurück, da ihre Gegenwart in Ruinen liegt und die Zukunft noch unsicher ist, während ganze Völker ziellos umherziehen. Mit jedem Stein, den die Spieler umdrehen, erzählt die Welt damit auch etwas von sich und zwar andere Dinge, als man in einem Tavernentratsch abhandeln kann. Man muss nur zuhören.

Montag, 10. April 2017

OSR: Vielleicht seid ihr zu alt für diesen Sch...?

"Wir könnten was Modernes spielen, aber wir mögen es heute lieber rückständig!". Dezent subversive Andeutungen ähnlich diesen lese/höre ich regelmäßig, seit ich ernsthaft in die Welt der Old School Renaissance* (OSR) eingestiegen bin, und das enttäuscht mich etwas. Aus meiner Sicht wirkt der Vorwurf auch ein wenig sonderbar, konnte ich mein Verständnis von Rollenspiel ja seit Beginn konsequent WEITERentwickeln.
Also habe ich mir angewöhnt, auf sowas gar nicht anzuspringen. Was ich noch nicht gelernt habe ist: wie vermittelt man die Möglichkeiten, die ein OSR Spielsystem dem Hobby bietet um somit oberflächliche Vorbehalte in Neugier oder Begeisterung verwandelt?

[*: mit Old School Renaissance sind zum Einen all die Spielsysteme gemeint, die auf den ersten Versionen von Dungeons & Dragons (D&D) aufbauen. Zum Anderen meint es aber eben auch den Spielstil und die Herangehensweise ans Rollenspiel. Ich will darüber nicht zu viele Worte verlieren, da das Internet voll von OSR-"Manifesten" ist. Und ich kann es auch nicht, ganze langjährig geführte blogs (meist im englischen Sprachraum) beschäftigen sich mit nichts Anderem, als der Vermittlung des Spielprinzips. Der Verlag System-Matters hatte zuletzt eine (von vielen!) bedeutende Auslegung des OSR - den Old School Primer von Matt Finch - übersetzt und hat diesen zum Gratis-Rollenspiel-Tag (GRT) zur Verfügung gestellt (https://www.system-matters.de/osr-fibel-herunterladen/)]

Ursprünglich ein genialer Streich mittels der OGL-Lizenz das alte D&D1 Spielmaterial wieder zugänglich zu machen, ist die daraus entstandene OSR heute viel mehr. Es ist richtig, diese Spielsysteme verlangen keine multiplen Würfelwürfe für eine einzige Probe, es gibt keine langen Listen mit vorgefertigten Spieloptionen und Talenten und Spielhandlungen mit Ressourcenpunkten "kaufen" geht auch nicht, geschweige denn irgendwas anderes, was heute als modern gilt. Damit scheinen viele "moderne" Rollenspieler ein Problem zu haben und das wäre mir vor einigen Jahren sicher auch so gegangen.
Dieses Problem, auch das Gespenst der Überalterung, war in letzter Zeit hier und dort in der OSR-blogosphäre ein Thema. Manche Spielleiter und Spieler scheinen noch Probleme zu haben, ihrem Umfeld eine Spielrunde auf Basis originärer D&D Regeln schmackhaft zu machen und das immer aus der Defensive heraus. Diese Haltung ist eigentlich kurios, und ich rege an, dass man dies mit dem "rückständig sein" auch ganz anders sehen kann.

Meine steile Hypothese ist:
Es ist nicht rückständig, so zu spielen, der Ansatz ist zu fortschrittlich für aktuelle Trends!

Ja. Natürlich. Die OSR ist ja schließlich eine verhältnismäßig neue Strömung im RPG Hobby, im deutschen sowieso.
D&D1, auf denen die meisten OSR Spiele mehr oder weniger basieren, hat zweifellos viele "Altlasten" und der ein oder andere Grognard ist nur bedingt eine Quelle progressiver Weiterentwicklung, aber wie die Mode kommen nunmal alle Dinge zurück, vermischen sich, werden weiterentwickelt und zu etwas Neuem. Die OSR ist nicht D&D1, schon längst nicht mehr gleichförmig und der Vorwurf der Rückständigkeit wird eigentlich selten dem neuen Phänomen sondern in der Regel dem Ablehnenden entgegengehalten.

Ich habe in all' den Jahren wenige Rollenspiele kennengelernt, in die so viel Designarbeit, Reflexion, Diskussion, Justierung und Verfeinerung gesteckt wurde und die dermaßen viel Spielmaterial und Spielhilfen produziert haben, wie jene Systemfamilie. Wer das Schwarze Auge für ein gut ausgebautes, umfangreich unterstütztes und gepflegtes Produkt hält, der unterschätzt meiner Meinung nach massiv die Leistung, welche die (meist nicht deutsche) OSR-Community stemmt. Nicht zuletzt aufgrund der Fähigkeit des leichten Regelkerns, unzählige Variationen zu produzieren, die untereinander fast unverändert kompatibel sind und welcher als gemeinsame Sprache funktioniert, kann man sich daran beteiligen, ohne sich durch eigene Designs ins Aus zu schießen (mit sogenannten "Heartbreakern").
Ohne die OSR hätte es das aktuelle D&D5 in dieser Form nicht gegeben. Einige (nicht alle) sind aktuelle und durchdachte Spielsysteme. Und das sage ich als jemand, der gewohnheitsmäßig Fehler sucht.

Warum ist es meiner Meinung nach modern, und mit modern meine ich nicht "besser" sondern verdientermaßen in unsere Zeit gehörig? Das sind meist designtechnische Herangehensweisen mit sehr praktischen Gesichtspunkten, die sich im Endprodukt aber massiv auf den Spielverlauf auswirken:
  • Sich Gedanken machen um die Organisation und den Ablauf am Spieltisch außerhalb der Spielweltereignisse. Wie handhabe ich als SL eigentlich eine Spielwelt mit unzähligen Einwohnern und Geschichten ohne den Überblick zu verlieren? Welche Auswirkungen hat das auf die Regeln?
  • Die Berücksichtigung von alltäglichen Bedürfnissen. Viele spielen nur noch selten, haben dann wenig Zeit, wollen aber trotzdem Vielfalt an einem Abend. Kein Problem hier.
  • Minimalistisches Design nach Ockhams Rasiermesser. Sind die vorhandenen Regeln ausreichend, benötige ich wirklich eine neue?
  • Die Bewusstwerdung der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Rollenspiels. Anstatt "Alles geht (angeblich) gleichzeitig" die Frage "was kann ich am Tisch überhaupt umsetzen?"
  • Die Priorisierung der Spielererfahrung über die Spielregeln anstatt umkehrt. Anstatt zu fragen "darf ich das und ist das realistisch?", die Frage "welche Regel setzt am besten meine Vorstellungen um?".
  • Die Spielrunde als organisches, langfristig angelegtes Gebilde aus verändernden Perspektiven anstatt eines starren, mechanistischen Korsetts. "Spielt es eine Rolle, wie wir die Spielhandlung letzte Woche ausgewürfelt haben?".
  • Das Interpretieren und Auslegen vorhandener Regeln, bevor eine Änderung vorgenommen wird. Habe ich den Zweck dieser Regel verstanden, bevor ich in die Tasten haue? (das führt auch zu dem von Vielen beobachteten, vermeintlichen Stillstand).
Ja, das war alles schon mal da, aber nicht in vielen RPGs der letzten zwei Jahrzehnte und mit Sicherheit kaum in deutschen und selten in dieser Konstellation. Ich habe in Spielrunden - und ich vermute in den meisten Online-Diskussionen - vermutlich weitestgehend Kontakt mit Rollenspielern, die seit mindestens 10 Jahren, aber selten länger als 25 Jahre, spielen. Das heißt, diesen sind die frühen D&D Versionen meist unbekannt, deren Spielstil und Ideen sind schwer zu vermitteln (da auch meist schlecht geschrieben) und sie haben die OSR Entwicklung im Anschluss nicht mitbekommen, weil sie zu ihren RPG-Anfangszeiten noch nicht stattfand. Wer die filigranen Details der OSR-Systeme nicht kennt, wer sich an den (meist reibungslos funktionierenden) Eigenheiten aufhängt, kann auch ihre gravierenden Unterschiede nicht erkennen oder wertschätzen. Es geht ja nicht darum, alles "alt" zu machen, sondern den Status Quo zu prüfen. Und das geht am Besten, wenn man von Null anfängt. Ist es für viele noch wichtig zu klären, ob man eher 30 oder 300 Charakterfertigkeiten hat, wird hier gefragt, welchen Zweck sie überhaupt haben und ob man das nicht auch (diesmal) anders regeln kann.
Die OSR ist für Spieler, die schon länger dabei sind also eigentlich neu und damit erstmal eine Abweichung der "Norm".

Diese Norm sind Spiele, bei denen beinahe die gesamte Verantwortung für einen erfolgreichen Spielabend in die Hand des Regelwerks und damit Designers gelegt wird. Der Rest liegt alleinig beim Spielleiter. Oft, aber nicht zwingend, haben diese RPG einen entsprechend großen Umfang oder sind so bizarr und abstrakt, dass sie oft mit hunderseitigen Begleitheften zur Erläuterung der eigentlichen Regeln kommen. Es sind rein positivistische Systeme, was dort nicht drinsteht, das kann nicht sein, vergleichbar mit einem Brettspiel. Ich habe diese Spiele selbst über 20 Jahre lang gespielt, ich habe 6 Jahre lang eines entwickelt und geschrieben (beta-Stadium), ich habe VIEL Zeit investiert, die Möglichkeiten auszuloten und hatte lange keinen Zweifel, dass diese Spielphilosophie die Zukunft des RPGs sein wird.
Aber meiner Meinung nach steckt der Ansatz heute in einer Sackgasse. Dies "Neue Schule" hat zwar herausragend gut funktionierende RPGs hervorgebracht, aber die haben schon einige Jahre auf dem Buckel. Ihre Nachfolger sind meist aufgekochte, geschmacksneutrale Eintöpfe, verlängert mit altem Wein und in einem neuen, mit Hochglanzcover verziertem Schlauch. Was normalerweise Antrieb des Fortschritts ist - der Output vieler eigenständiger Designer - ist nunmehr eine Industrie für hochgradig inkompatible, aber von der Philosophie gleichförmige Spiele, die so schnell verschwinden, wie sie kommen. Es sind die neuen Heartbreaker!

Die Rückständigkeit, das ist nicht die Old-School-Renaissance. Die Renaissance ist ein Zeitalter des Fortschritts. Es geht nicht ausschließlich darum, "zu spielen wie früher", sondern "dieses Mal machen wir es noch besser und vermeiden die alten Fehler". Die OSR ist frisch und lebhaft, die hat noch Energie und Entwicklungspotenzial - oh ja, es gibt viele Baustellen - die enthält mehr Abenteuer pro Spielzeit; aber das kann man nur erleben, das kann man in den dünnen Regelheften nicht lesen. Irgendwann wird sie wieder rückständig sein, dann kommt vielleicht irgendjemand wieder auf die Idee, wie man nur so irre sein kann, eine Probe für eine Handlung im Konsens einfach zu erfinden, anstatt in einer Liste nachzuschlagen oder sie mit "Erzählpunkten" zu kaufen und wer weiß, vielleicht wird es dann auch mal wirklich reibungslos funktionieren. Aber bis dahin loten wir die derzeitigen Möglichkeiten aus, die noch lange nicht ausgereizt sind und ich habe dabei so viel Spaß und so wenig Aufwand, wie schon seit Jahren nicht mehr im Rollenspiel.

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Dienstag, 11. Oktober 2016

Gastbeitrag! Monster und Missetaten: Maleficium geht online

Hi, ich bin David und ich war nie ein großer Fan von Horror. Horrorfilme, Horrorgeschichten, selbst Halloween haben mir nie etwas gegeben. Diese Meinung hat sich aber in der Vergangenheit drastisch geändert. Eine kurze Vorgeschichte:

Vor einigen Jahren saß ich mit zwei Freunden zusammen und wir gingen dem Rollenspielhobby nach. Das Schwarze Auge stand auf dem Plan. An die exakten Hintergründe der Abenteuer unserer Charaktere kann ich mich nicht mehr genau erinnern, aber eine Szene werde ich immer im Gedächtnis behalten. Wir – soll heißen unsere Charaktere – stapften des nachts durch ein Moor und jagten einer unbekannten Kreatur hinterher.

Da stand unser SL auf, ging zum Lichtschalter und knipste das Licht aus. Es war beinah stockfinster und ebenso frei von Ablenkungen. Wir waren plötzlich richtig im Spiel und das nächtliche Moor erwachte förmlich zum Leben. Wir begegneten der Kreatur, aber wir sahen sie nie. Wir hörten nur die schweren Schritte, die uns verfolgten. Wir mussten wohl (etwas verspätet) gedacht haben, dass wir es nicht mit ihr aufnehmen können, denn wir sind geflohen. Natürlich – wie sollte es anders sein – haben wir uns bei der Flucht verloren und ich stand plötzlich allein da. Als ich dann erneut dieselben Schritte hörte, erschuf ich kurzerhand einen Wall aus Dornen um mich herum, um mich vor der Kreatur zu schützen. Ich konnte hören, wie sich ihre Schritte näherten und das Kratzen von langen Krallen an der Barriere.

So oder so ähnlich lief es zumindest ab. Seit diesem Abend habe ich immer wieder versucht, Momente im Rollenspiel zu erzeugen, die eine ähnliche Wirkung hatten. Mal gelang es recht, mal eher schlecht. Der Punkt ist: Seit diesem Abend bin ich ein Horrorfan... zumindest was das Rollenspiel angeht. Nicht selten habe ich seitdem Ausschau nach Spielen gehalten, die sich auf das Genre spezialisieren, fand aber zwischen den angestaubt wirkenden Titeln und neuartigen Erzählspielen wenig, was mich ansprach. Savage Worlds Rippers sei hier als Ausnahme genannt.

Vor einigen Monaten kam dann die zündende Idee und ich habe mich hingesetzt und geschrieben (und Stunden auf den Beinen mit Auf- und Abgehen verbracht). Das Spiel, das dabei herauskam, ist im Kern relativ konventionell, verzichtet aber auf Regelwut und hat einen Twist, der sich als namensgebend herausstellen sollte.

Und obendrein macht es von Tarotkarten Gebrauch!

Maleficium ist ein Horror-Rollenspiel für kurz angelegte Szenarien (soll heißen: wenige Spielabende) um das Schicksal verfluchter Individuen. Der Fluch hat bestimmte Effekte, die jedem Szenario gemein sind, aber die Art des Fluches und wie sich seine schädlichen Auswirkungen ausdrücken, ist von Szenario zu Szenario unterschiedlich. Das Spiel ist settingunabhängig.

Beim Design der Mechanismen haben mich Spiele wie Mutant: Year Zero, aber auch selbstgemachte Projekte des engeren Umfeldes, inspiriert. Folgende vier Grundsätze haben mich beim Schreiben geleitet:
1. Die Regeln müssen flexibel sein, also mit wenig Text viele Situationen abdecken.
2. Die Regeln müssen mehr oder weniger simulationistisch sein, sollten also keine oder wenige abstrakte Spielmechanismen auf der Metaebene enthalten.
3. Die Regeln müssen die Horrorstimmung des Spiels unterstützen.
4. Die Regeln müssen wenige sein.

Im Zentrum des Spiels stehen keine Würfel, sondern Tarotkarten. Tarotkarten sind in kleine und große Arkanakarten eingeteilt. Kleine Arkanakarten sind dabei in die vier Farben Kelche, Münzen, Schwerter und Stäbe aufgeteilt mit den Werten 2 bis Ass.

Kleine Arkanakarten werden bei Maleficium meist zur Bestimmung von Probenergebnissen benutzt und werden dafür mit einem der drei Wesenszüge Körper, Verstand und Seele verrechnet. Schwerpunkte sind Fertigkeiten, die frei formuliert werden, und die die Möglichkeit bieten, Charaktere noch individueller zu gestalten. Sie erhöhen die Erfolgschancen bei jeder Probe, bei der sie relevant sind, aber ihre Benutzung geht mit einem Risiko einher...

Aber nicht nur die Zahlen auf den Karten sind relevant, sondern sie müssen auch ‚gelesen‘ werden. Ausrichtung und Farbe bestimmen den Nebeneffekt, wann immer ein Spielercharakter eine Probe ablegt. Dieser Nebeneffekt stellt unvorhergesehene Konsequenzen dar, die den Mitspielern ermöglichen, die Erzählung aufrecht zu erhalten und interessanter zu gestalten. Nebeneffekte haben ebenfalls den erfreulichen Effekt, dass das Spiel Regeln einsparen kann. Allein im Kampf können beispielsweise Dinge wie Treffer auf Verbündete, Verschleiß oder Treffen durch Deckung hindurch allesamt durch Nebeneffekte gehandhabt werden.

Die großen Arkanakarten, die wohl den meisten Leuten zumindest flüchtig bekannt sind (Der Narr, Der Tod, Der Turm usw.), werden vom Spielleiter gesammelt und können zu jeder Zeit eingesetzt werden, um den Fluch gegen die Spielercharaktere zu wirken. Die Karten haben dabei unterschiedliche Funktionen und Effekte, die vom Spielleiter je nach Situation und Art des Fluchs interpretiert werden und so die Erzählung des Spiels voranbringen.

Und was wäre ein Horrorrollenspiel ohne die Möglichkeit, den fortschreitenden Wahnsinn der Charaktere festzuhalten? Bei Maleficium läuft das über Traumata. Diese Traumata sind aber nicht auf Wahnsinn beschränkt, sondern umfassen auch Verzweiflung und Verletzungen. Alle drei Arten von Traumata senken die oben genannten Wesenszüge und wirken sich auf diese Weise negativ auf die Leistung des Charakters aus. Sollte ein Wesenszug jemals einen Wert von 0 oder weniger erreichen, ist der betroffene Charakter aus dem Spiel, sei es weil er seinen Verletzungen erliegt, den Verstand verliert oder den Lebenswillen verloren hat.

Bevor ich aber noch mehr verrate, lasse ich das Spiel einfach für sich selbst sprechen. Die neueste Version findet ihr:

und den Charakterbogen hier:

Besonderer Dank gilt glueckspirat, der erheblich am Design des Charakterbogens beteiligt war. Alle Dateien sind im DIN A5-Format.

Das Spiel befindet sich im Betastadium und über Feedback, solltet ihr die Möglichkeit haben es zu spielen, würde ich mich freuen. Aber auch sonst werde ich den Kommentarbereich dieses Artikels im Auge behalten.

Bis dahin, viel Spaß!