Montag, 10. April 2017

OSR: Vielleicht seid ihr zu alt für diesen Sch...?

"Wir könnten was Modernes spielen, aber wir mögen es heute lieber rückständig!". Dezent subversive Andeutungen ähnlich diesen lese/höre ich regelmäßig, seit ich ernsthaft in die Welt der Old School Renaissance* (OSR) eingestiegen bin, und das enttäuscht mich etwas. Aus meiner Sicht wirkt der Vorwurf auch ein wenig sonderbar, konnte ich mein Verständnis von Rollenspiel ja seit Beginn konsequent WEITERentwickeln.
Also habe ich mir angewöhnt, auf sowas gar nicht anzuspringen. Was ich noch nicht gelernt habe ist: wie vermittelt man die Möglichkeiten, die ein OSR Spielsystem dem Hobby bietet um somit oberflächliche Vorbehalte in Neugier oder Begeisterung verwandelt?

[*: mit Old School Renaissance sind zum Einen all die Spielsysteme gemeint, die auf den ersten Versionen von Dungeons & Dragons (D&D) aufbauen. Zum Anderen meint es aber eben auch den Spielstil und die Herangehensweise ans Rollenspiel. Ich will darüber nicht zu viele Worte verlieren, da das Internet voll von OSR-"Manifesten" ist. Und ich kann es auch nicht, ganze langjährig geführte blogs (meist im englischen Sprachraum) beschäftigen sich mit nichts Anderem, als der Vermittlung des Spielprinzips. Der Verlag System-Matters hatte zuletzt eine (von vielen!) bedeutende Auslegung des OSR - den Old School Primer von Matt Finch - übersetzt und hat diesen zum Gratis-Rollenspiel-Tag (GRT) zur Verfügung gestellt (https://www.system-matters.de/osr-fibel-herunterladen/)]

Ursprünglich ein genialer Streich mittels der OGL-Lizenz das alte D&D1 Spielmaterial wieder zugänglich zu machen, ist die daraus entstandene OSR heute viel mehr. Es ist richtig, diese Spielsysteme verlangen keine multiplen Würfelwürfe für eine einzige Probe, es gibt keine langen Listen mit vorgefertigten Spieloptionen und Talenten und Spielhandlungen mit Ressourcenpunkten "kaufen" geht auch nicht, geschweige denn irgendwas anderes, was heute als modern gilt. Damit scheinen viele "moderne" Rollenspieler ein Problem zu haben und das wäre mir vor einigen Jahren sicher auch so gegangen.
Dieses Problem, auch das Gespenst der Überalterung, war in letzter Zeit hier und dort in der OSR-blogosphäre ein Thema. Manche Spielleiter und Spieler scheinen noch Probleme zu haben, ihrem Umfeld eine Spielrunde auf Basis originärer D&D Regeln schmackhaft zu machen und das immer aus der Defensive heraus. Diese Haltung ist eigentlich kurios, und ich rege an, dass man dies mit dem "rückständig sein" auch ganz anders sehen kann.

Meine steile Hypothese ist:
Es ist nicht rückständig, so zu spielen, der Ansatz ist zu fortschrittlich für aktuelle Trends!

Ja. Natürlich. Die OSR ist ja schließlich eine verhältnismäßig neue Strömung im RPG Hobby, im deutschen sowieso.
D&D1, auf denen die meisten OSR Spiele mehr oder weniger basieren, hat zweifellos viele "Altlasten" und der ein oder andere Grognard ist nur bedingt eine Quelle progressiver Weiterentwicklung, aber wie die Mode kommen nunmal alle Dinge zurück, vermischen sich, werden weiterentwickelt und zu etwas Neuem. Die OSR ist nicht D&D1, schon längst nicht mehr gleichförmig und der Vorwurf der Rückständigkeit wird eigentlich selten dem neuen Phänomen sondern in der Regel dem Ablehnenden entgegengehalten.

Ich habe in all' den Jahren wenige Rollenspiele kennengelernt, in die so viel Designarbeit, Reflexion, Diskussion, Justierung und Verfeinerung gesteckt wurde und die dermaßen viel Spielmaterial und Spielhilfen produziert haben, wie jene Systemfamilie. Wer das Schwarze Auge für ein gut ausgebautes, umfangreich unterstütztes und gepflegtes Produkt hält, der unterschätzt meiner Meinung nach massiv die Leistung, welche die (meist nicht deutsche) OSR-Community stemmt. Nicht zuletzt aufgrund der Fähigkeit des leichten Regelkerns, unzählige Variationen zu produzieren, die untereinander fast unverändert kompatibel sind und welcher als gemeinsame Sprache funktioniert, kann man sich daran beteiligen, ohne sich durch eigene Designs ins Aus zu schießen (mit sogenannten "Heartbreakern").
Ohne die OSR hätte es das aktuelle D&D5 in dieser Form nicht gegeben. Einige (nicht alle) sind aktuelle und durchdachte Spielsysteme. Und das sage ich als jemand, der gewohnheitsmäßig Fehler sucht.

Warum ist es meiner Meinung nach modern, und mit modern meine ich nicht "besser" sondern verdientermaßen in unsere Zeit gehörig? Das sind meist designtechnische Herangehensweisen mit sehr praktischen Gesichtspunkten, die sich im Endprodukt aber massiv auf den Spielverlauf auswirken:
  • Sich Gedanken machen um die Organisation und den Ablauf am Spieltisch außerhalb der Spielweltereignisse. Wie handhabe ich als SL eigentlich eine Spielwelt mit unzähligen Einwohnern und Geschichten ohne den Überblick zu verlieren? Welche Auswirkungen hat das auf die Regeln?
  • Die Berücksichtigung von alltäglichen Bedürfnissen. Viele spielen nur noch selten, haben dann wenig Zeit, wollen aber trotzdem Vielfalt an einem Abend. Kein Problem hier.
  • Minimalistisches Design nach Ockhams Rasiermesser. Sind die vorhandenen Regeln ausreichend, benötige ich wirklich eine neue?
  • Die Bewusstwerdung der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Rollenspiels. Anstatt "Alles geht (angeblich) gleichzeitig" die Frage "was kann ich am Tisch überhaupt umsetzen?"
  • Die Priorisierung der Spielererfahrung über die Spielregeln anstatt umkehrt. Anstatt zu fragen "darf ich das und ist das realistisch?", die Frage "welche Regel setzt am besten meine Vorstellungen um?".
  • Die Spielrunde als organisches, langfristig angelegtes Gebilde aus verändernden Perspektiven anstatt eines starren, mechanistischen Korsetts. "Spielt es eine Rolle, wie wir die Spielhandlung letzte Woche ausgewürfelt haben?".
  • Das Interpretieren und Auslegen vorhandener Regeln, bevor eine Änderung vorgenommen wird. Habe ich den Zweck dieser Regel verstanden, bevor ich in die Tasten haue? (das führt auch zu dem von Vielen beobachteten, vermeintlichen Stillstand).
Ja, das war alles schon mal da, aber nicht in vielen RPGs der letzten zwei Jahrzehnte und mit Sicherheit kaum in deutschen und selten in dieser Konstellation. Ich habe in Spielrunden - und ich vermute in den meisten Online-Diskussionen - vermutlich weitestgehend Kontakt mit Rollenspielern, die seit mindestens 10 Jahren, aber selten länger als 25 Jahre, spielen. Das heißt, diesen sind die frühen D&D Versionen meist unbekannt, deren Spielstil und Ideen sind schwer zu vermitteln (da auch meist schlecht geschrieben) und sie haben die OSR Entwicklung im Anschluss nicht mitbekommen, weil sie zu ihren RPG-Anfangszeiten noch nicht stattfand. Wer die filigranen Details der OSR-Systeme nicht kennt, wer sich an den (meist reibungslos funktionierenden) Eigenheiten aufhängt, kann auch ihre gravierenden Unterschiede nicht erkennen oder wertschätzen. Es geht ja nicht darum, alles "alt" zu machen, sondern den Status Quo zu prüfen. Und das geht am Besten, wenn man von Null anfängt. Ist es für viele noch wichtig zu klären, ob man eher 30 oder 300 Charakterfertigkeiten hat, wird hier gefragt, welchen Zweck sie überhaupt haben und ob man das nicht auch (diesmal) anders regeln kann.
Die OSR ist für Spieler, die schon länger dabei sind also eigentlich neu und damit erstmal eine Abweichung der "Norm".

Diese Norm sind Spiele, bei denen beinahe die gesamte Verantwortung für einen erfolgreichen Spielabend in die Hand des Regelwerks und damit Designers gelegt wird. Der Rest liegt alleinig beim Spielleiter. Oft, aber nicht zwingend, haben diese RPG einen entsprechend großen Umfang oder sind so bizarr und abstrakt, dass sie oft mit hunderseitigen Begleitheften zur Erläuterung der eigentlichen Regeln kommen. Es sind rein positivistische Systeme, was dort nicht drinsteht, das kann nicht sein, vergleichbar mit einem Brettspiel. Ich habe diese Spiele selbst über 20 Jahre lang gespielt, ich habe 6 Jahre lang eines entwickelt und geschrieben (beta-Stadium), ich habe VIEL Zeit investiert, die Möglichkeiten auszuloten und hatte lange keinen Zweifel, dass diese Spielphilosophie die Zukunft des RPGs sein wird.
Aber meiner Meinung nach steckt der Ansatz heute in einer Sackgasse. Dies "Neue Schule" hat zwar herausragend gut funktionierende RPGs hervorgebracht, aber die haben schon einige Jahre auf dem Buckel. Ihre Nachfolger sind meist aufgekochte, geschmacksneutrale Eintöpfe, verlängert mit altem Wein und in einem neuen, mit Hochglanzcover verziertem Schlauch. Was normalerweise Antrieb des Fortschritts ist - der Output vieler eigenständiger Designer - ist nunmehr eine Industrie für hochgradig inkompatible, aber von der Philosophie gleichförmige Spiele, die so schnell verschwinden, wie sie kommen. Es sind die neuen Heartbreaker!

Die Rückständigkeit, das ist nicht die Old-School-Renaissance. Die Renaissance ist ein Zeitalter des Fortschritts. Es geht nicht ausschließlich darum, "zu spielen wie früher", sondern "dieses Mal machen wir es noch besser und vermeiden die alten Fehler". Die OSR ist frisch und lebhaft, die hat noch Energie und Entwicklungspotenzial - oh ja, es gibt viele Baustellen - die enthält mehr Abenteuer pro Spielzeit; aber das kann man nur erleben, das kann man in den dünnen Regelheften nicht lesen. Irgendwann wird sie wieder rückständig sein, dann kommt vielleicht irgendjemand wieder auf die Idee, wie man nur so irre sein kann, eine Probe für eine Handlung im Konsens einfach zu erfinden, anstatt in einer Liste nachzuschlagen oder sie mit "Erzählpunkten" zu kaufen und wer weiß, vielleicht wird es dann auch mal wirklich reibungslos funktionieren. Aber bis dahin loten wir die derzeitigen Möglichkeiten aus, die noch lange nicht ausgereizt sind und ich habe dabei so viel Spaß und so wenig Aufwand, wie schon seit Jahren nicht mehr im Rollenspiel.

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